„Populismus der Mitte“ seit März in Bratislava

Ackermann-Gemeinde befasst sich mit der aktuellen politischen Situation in der Slowakei

Die Zahl der Interessenten an den Zooms, also den via Internet angebotenen Vorträgen, steigt kontinuierlich. 54 eingewählte Computer (Einzelpersonen, Paare, Familien) aus Deutschland, Tschechien, Österreich und diesmal auch der Slowakei waren es beim jüngsten Themenzoom. Der slowakische Schriftsteller Michal Hvorecký informierte über die Situation in seiner Heimat nach den Ende Februar stattgefundenen Parlamentswahlen. Damit weitete die Ackermann-Gemeinde den Blick in eben dieses Land und dessen aktuelle politische Lage.

 

Die mit Mund-Nasenschutz vorgenommene Vereidigung der neuen Regierung Mitte März rief in seiner Einführung Moderator Rainer Karlitschek in Erinnerung. „Vieles ist derzeit in der Slowakei in Bewegung“, führte er auf das Thema hin und stellte den Referenten Michal Hvorecký kurz vor, der in angesehenen Zeitungen als Autor tätig ist, aber auch durch seine Romane (z.B. „Troll“) in Deutschland bekannt ist. Vor allem die Themen Demokratie und Digitalisierung bearbeitet er intensiv. Auch an Veranstaltungen der Ackermann-Gemeinde wirkte er bereits als Referent mit.

Über einige ihm bekannte Gesichter freute sich Hvorecký und teilte den Zuhörern mit, dass er sich nicht aus Pressburg/Bratislava, sondern aus Schemnitz/Baňská Štiavnica melde, da er – auch aufgrund der Corona-Pandemie – kurzfristig hier Arbeit gefunden habe. Er stellte kurz die Kleinstadt Schemnitz vor, die ab dem 13. Jahrhundert vor allem von Deutschen aus den Alpenregionen und Sachsen kolonisiert wurde und im Mittelalter wegen des Bergbaus (Gold und Silber) zu den reichsten Städten Mitteleuropas gehörte. Aber auch heute sei Schemnitz ein Geheimtipp und sehr beliebt bei Touristen, vor allem wegen der lebendigen Kunst- und Kulturszene, aber auch der nahen Natur (Wald, Gebirge usw.). „Nicht nur wegen Corona ist es bei uns spannend. Auch die Parlamentswahlen Ende Februar sorgen für turbulente Zeiten“, leitete der Referent auf sein Thema über und stellte quasi als erste These die Aussage in den Raum, dass es in der Slowakei „immer noch eine demokratische Wahl“ gebe – im Gegensatz etwa zu Polen oder Ungarn.

Hvorecký charakterisierte den Wahlgewinner (knapp über 25 Prozent) Igor Matovič als „Produkt des postdemokratischen Zeitalters“. Als Unternehmer im Medienbereich habe er in den letzten zehn Jahren seine politischen Botschaften vor allem über ein kostenloses, in alle Haushalte verteiltes Anzeigenblatt kommuniziert. Aus diesen Aktivitäten sei auch seine Bewegung „Gewöhnliche Leute und unabhängige Personen“ entstanden, die für einen „Populismus der Mitte“ stehe. Matovič sehe sich, so Hvorecký, als „Sprachrohr für alle Unzufriedenen, Frustrierten – für alle, die eine andere Art von Politik gesucht haben“. Doch es sei keine Partei im herkömmlichen Sinn, denn es gebe fast keine Mitglieder und wenig Strukturen. „Es ist mehr oder weniger eine One-Man-Show, eine One-Man-Partei, er führt diese Partei als eine Art Privatfirma“, schilderte der Autor. Dies sei in der Vergangenheit oft auch kritisiert worden – ohne Wirkung auf Matovič, zumal er stets sehr präsent bei Demos und politischen Aktionen gewesen sei. „Die Partei hat zudem eine ziemlich unklare Ideologie, sie hat sich als eine Art Gegenpartei positioniert“, nannte Hvorecký ein weiteres Merkmal. Und diese Kontraposition habe ihm den Sieg gegen die bisher dominierenden Sozialdemokraten (Robert Fico, Peter Pellegrini) ermöglicht.

In diesem Zusammenhang ging Hvorecký auch auf die gut zwölfjährige Amtszeit dieser beiden Politiker, insbesondere von Fico (2006-2010, 2012-2018) ein, dem er eine Nähe zu Korruption und Mafia zuschrieb (politische Mitverantwortung am Mord an dem Journalisten Jan Kuciak und dessen Verlobter Martina Kušnirová im Februar 2018). Ficos Vorteil sei  gewesen, dass es lange keine starke politische Opposition gab und erst durch die Proteste in der Zivilgesellschaft eine solche entstand. Matovič habe besonders in den letzten Wahlkampfwochen durch „viele kommunikative Erfolge“ die Mehrheit auf seine Seite gezogen. Aber, so Hvorecký, es bleibe als großes Fragezeichen: „Kann er regieren?“

Seit der zweiten Märzhälfte ist Matovič nun Premierminister und leitet ein Bündnis aus vier Parteien (neben seiner Partei die liberale SaS = Freiheit und Solidarität, die Bewegungen Za fudi = Für die Menschen sowie Sme rodina = Wir sind eine Familie). Damit profiliere sich die Smer-SD (Sozialdemokraten) als starke Oppositionspartei, auch wenn diese noch die künftigen Rollen Ficos und Pellegrinis austarieren müsse. Insgesamt stellte Hvorecký einen Großteil der Politiker um die 40 Jahre fest, Matovič sei 47, lediglich der neue Umweltminister Ján Budaj (früherer Dissident, eine führende Person der Samtenen Revolution in der Slowakei, Aktionskünstler und Umweltaktivist) sei mit 68 Jahren älter. Als Hauptinhalte seiner politischen Agenda habe Matovič den Kampf gegen Korruption, größte Transparenz und die Schaffung von Ordnung nach den Skandalen und dem Chaos artikuliert und hierzu in allen wichtigen Ministerien und Stellen neue Personen eingesetzt. Hvorecký kam zu folgendem Fazit: „Ich glaube, das braucht auch das Land. Ich bin, wie viele Intellektuelle, vorsichtig mit Matovič. Aber ich drücke dieser Regierung die Daumen. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg“.

Natürlich ist Hvorecký bewusst, dass man bei dieser Art von Parteien nicht weiß, wo sie steht. Und er verriet noch einige weitere zum Teil skurrile Ideen Matovičs: als überaus internet-affin möchte er ständige Internet-Nachfragen, was sich das Volk wünscht – gemäß ungefähr der Vorgabe: „Ich bin der Sprecher des Volkes. Das Volk wird das Sagen haben.“ Letztlich sollen die Menschen in Umfragen das Parteiprogramm bestimmen.

Diesem Gedanken steht Hvorecký mit Vorsicht gegenüber, zumal Matovič in der Corona-Krise nur Experten bzw. dem Volk die Entscheidung/Verantwortung überlassen will. „Wenn es schwierig oder gefährlich wird, verschiebt er die Verantwortung auf andere“, beurteilte der slowakische Autor die ersten Wochen von Matovič und bescheinigte ihm ein gewisses Maß an Narzissmus, der heute in der Politik mitunter an der Tagesordnung ist. 

Moderator Karlitschek wollte wissen, wie angesichts der Personenzentrierung auf Matovič eine prodemokratische und proeuropäische Grundstimmung garantiert werden könne. Hvorecký hofft, dass dies durch die Vierer-Koalition gewährleistet wird, auch wenn ihm klar ist, dass der Premierminister als Regierungspartner schwierig ist. Die prodemokratischen und proeuropäischen Positionen von SaS und Za fudi bestärkten ihn in dieser Hoffnung, ebenso einige erfahrene Parlamentarier (z.B. Richard Sulík), die für Kontinuität und demokratische Basis stehen. Ferner symbolisiere die Staatspräsidentin Zuzana Čaputová, auch wenn sie vor allem repräsentative Funktionen hat, Demokratie und Werte. Die freie Presse als demokratisches Kontrollorgan sei ebenfalls wichtig, auch wenn Matovič eine kostenlose Regierungszeitung angedacht habe. Das aber sei bei den Journalisten und der Opposition auf keine Gegenliebe gestoßen.

Warum die Partei von Staatspräsidentin Čaputová bei den Parlamentswahlen so schlecht abgeschnitten hat, fragte Michael Feil. „Die Partei hatte außer Čaputová keine weiteren Führungspersonen. Noch vor einem Jahr lag das Parteienbündnis bei 17 bis 18 Prozent, die Werte sind dann von Monat zu Monat gesunken“, stellte der Autor fest und bedauerte zudem, dass in dieser Partei viele junge Leute aktiv sind, die nun nicht im Parlament sind. Ob Matovič den Kampf gegen die Mafia gewinnen wird, wollte Oliver Engelhardt wissen. Hvorecký weitete den Kampf auf Korruption und die alten Eliten aus und gab zu bedenken, dass die in der Regierungskoalition vertretene Partei „Wir sind Familie“ Boris Kollár, ein „starker rechter Populist“ führe, „der seine Wurzeln in der Straßenmafia hat“. Dieser sei der engste Partner von Matovič. „Es wurde eine Mafia durch die andere ersetzt. Die Vierer-Koalition muss sehr aufpassen, wohin sich ‚Wir sind eine Familie‘ entwickelt“, gab Hvorecký seiner Sorge Ausdruck und bezog Matovič und dessen Bewegung mit ein.

Bewegungen mit teils charismatischen Personen an der Spitze stellte Prof. Dr. Bernhard auch für West- und Südeuropa (Frankreich, Italien, Griechenland, Spanien) fest. Hvorecký sieht einen Unterschied in den mitunter langen Traditionen von Parteien in den Ländern Westeuropas, was in den „jüngeren, schwächeren Demokratien“ Mittel- und Osteuropas fehlt, wo Parteien oft nicht überleben, wenn ihre Macher abtreten. Die Rolle der Kirche(n) in der slowakischen Gesellschaft interessierte schließlich Eva Engelhardt. „Das Thema Religion/Kirche wird auch in dieser Regierung eine besondere Rolle spielen. Denn Viele wollen wissen, wofür Matovič eigentlich steht“, meinte Hvorecký dazu. Und er wies auf die kleine Gruppe „ziemlich fundamentalistischer Christen“ in Matovič‘ Fraktion hin. Schließlich kam Hvorecký nochmals auf Boris Kollár, der sich als mehrfacher Vater - wobei die Kinder von verschiedenen Frauen sind – für einen gläubigen Christ und Konservativen hält. „Auch so kann man inzwischen konservativ sein. Er meint es ernst mit seiner Aussage ‚Ich bin ein gläubiger Vater‘“, schloss Michal Hvorecký seine Ausführungen – und damit auch die inhaltlichen Aussagen dieses Themenzooms.

Markus Bauer

 

Folgenden Artikel stellt uns Michal Hvorecký zur Verfügung: Intim Abstand.

Michal Hvorecký bei seinen Ausführungen
Ein Teil der zahlreichen Interessenten an diesem Themenzoom.
Ein weiterer Blick auf Teilnehmer dieses Themenzooms.