Zerrissenes Europa? Verstehen wir uns (noch)?

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs schien es so, als sei die widernatürliche Trennung in Ost- und Westeuropa endlich Geschichte. Geographisch sind wir dank der Europäischen Union in einem Staatenverbund vereint. Doch trotz aller politischen und soziokulturellen Verbindungen scheint der Annäherungsprozess zwischen den mittel- und osteuropäischen Ländern und den „alten EU-Mitgliedsstaaten“ noch in den Kinderschuhen zu stecken. Vor uns steht ein wahrlich langer Prozess!

 

Heute haben wir eine Europäische Union mit einem gemeinsamen Binnenmarkt und Reisefreiheit von Gibraltar bis ins Baltikum, von Irland bis ans Schwarze Meer. Doch von Euphorie darüber – und das ganz unabhängig von unvorhersehbaren Entwicklungen wie der Corona-Krise – von Freude und Zufriedenheit darüber keine Spur. Vielmehr herrscht der Eindruck vor, dass innerhalb der EU in grundsätzlichen Fragen unterschiedliche Einstellungen bestehen.

 

Wie kommt es, dass der Eindruck von zwei Europas innerhalb dieser einen EU entsteht? Woran liegt es, dass wir uns anscheinend kaum mehr verstehen?

 

Andauernd im Krisenmodus

Antworten darauf sind sicherlich nicht leicht zu geben. Zu vielfältig, zu komplex ist unser Kontinent, zu divers die einzelnen nationalen Interessen. Zu viele Krisen haben die Europäische Union im vergangenen Jahrzehnt erschüttert: Die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09, der Dauerkrisenmodus um den Euro, vor allem aber ab 2015 die Flüchtlings- und Migrationskrise. Diese massiven Herausforderungen hätten ein gemeinsames Handeln der gesamten EU erfordert. Stattdessen trieben sie die EU-Mitgliedsstaaten eher auseinander.

Wir müssen es wohl festhalten und wir müssen es aushalten, dass es in den mittel- und osteuropäischen Ländern bei einigen Themen andere Ansichten gibt.

Ein grundlegender Dissens besteht dabei schon in der Art und Weise, wie Europa-Politik gedacht wird. In den EU-Gründungsstaaten gäbe es heute durchaus die Bereitschaft zu einer noch weitergehenden Vertiefung der Integration, z.B. in Form einer europäischen Armee.

 

Wunsch nach Souveränität

Der Betonung des Gemeinschaftlichen steht in den 2004 beigtretenen Mitgliedsstaaten das Festhalten an nationalstaatlicher Ordnung gegenüber. Die Wahrung nationalstaatlicher Souveränität war vor allem den sog. Visegrád-Staaten (V4) in der Flüchtlingskrise ein großes Anliegen. Mit dem Plan EU-weiter verpflichtender Quoten – vergleichbar mit dem Königsteiner Schlüssel zur Verteilung von Asylbewerbern in Deutschland – stieß man in Prag, Pressburg, Warschau und Budapest auf taube Ohren. Zu einer vergleichbaren Reaktion kam es, als 2019 Forderungen nach einem massiv verstärkten Klimaschutz in der EU aufkamen. Auch da stellten sich die V4 „quer“. Und außer in der Slowakei hat bisher kein Visegrád-Land die Gemeinschaftswährung Euro – der Weg dorthin dürfte angesichts der Debatten schwierig werden.

 

West-Ost-Gefälle

Um dies zu verstehen, lohnt vielleicht ein Blick auf die Lebensstandards in den EU-Staaten. Noch immer liegen die Löhne und Gehälter in Tschechien lediglich bei etwa einem Drittel des deutschen Durchschnitts. Und dies bei einer Produktivität, die zwei Drittel des Wertes in Deutschland oder Österreich erreicht.

Es ist der verständliche und verdiente Wunsch der tschechischen Arbeitnehmer, dass diese Lücke endlich geschlossen wird. „Chceme se mít jako v Německu – wir wollen, dass es uns so gut geht wie in Deutschland“, dieser Wunsch existierte 1989 wie heute. Und solange dies nicht erfüllt ist, scheinen Aufnahme von Flüchtlingen oder intensiverer Klimaschutz vielen Tschechen nur ein lästiges Hindernis auf dem Weg des wirtschaftlichen Aufstiegs zu sein. Auch beim Thema Energie steht die Unabhängigkeit im Vordergrund der Debatte, und nicht ein bunter, klimaschonender Energiemix der EU – in der Tschechischen Republik erfreuten sich die Kernenergie und der Atomstrom nicht nur bei Wirtschaft und Politik großer Popularität.

 

Selbstkritik gefragt

Zunächst einmal möchte man sich eben um sich selber kümmern dürfen, ohne Einmischung von außen, was man zu tun oder zu lassen hätte. Bevormundung aus den Zentralen anderer Großmächte ist den Tschechen quasi als Menetekel ins historische Gedächtnis geschrieben und für diese unterschiedlichen Befindlichkeiten sollten gerade wir Deutschen Verständnis haben.

Eher sollten wir uns in den älteren EU-Ländern selber kritische Fragen stellen: War es wirklich unser Ziel nach der EU-Erweiterung von 2004, für Wohlstand in ganz Europa zu sorgen – oder nur für unsere westeuropäischen Großkonzerne, die Mittel- und Osteuropa lediglich als günstige „Werkbank“ und neuen Absatzmarkt gebrauchen wollten? Hätte die soziale Komponente unserer Marktwirtschaft auf europäischer Ebene nicht eine größere Rolle spielen sollen?

 

Sprachbarriere bleibt

Neben der europäischen sozialen Frage gibt es aber freilich noch einige Bereiche mehr, in denen es hakt und derentwegen wir uns nicht einfach verstehen. Einer davon ist und bleibt die Sprachenfrage. Wir haben es auch 30 Jahre nach der Wende nicht geschafft, einen funktionierenden Fremdsprachenunterricht für unsere Nachbarsprachen Tschechisch oder Polnisch aufzubauen. Das ist ein eklatantes Versagen unserer föderalen Schul- und Bildungspolitik. Ja nicht einmal ein offiziell zugelassenes Tschechisch-Schulbuch gibt es bis heute in Deutschland! Auch nicht in Bayern oder Sachsen. Die Lehrer, die sich um einen Unterricht in der Nachbarsprache bemühen, müssen sich zunächst mühsam Materialien aus verschiedenen Quellen zusammenkopieren.

 

Dialog auf breiterer Basis

Wer keine gemeinsame Sprache spricht, der tut sich eben schwer dabei, einander zu verstehen. Einzelne Initiativen gibt es dabei genug: Im schulischen Kontext wäre das 2019 herausgegebene österreichisch-tschechische Geschichtsbuch zu nennen, das hoffentlich Bayern und Sachsen als baldige Inspiration dienen wird. Ebenso gibt es im zivilgesellschaftlichen Bereich eine Vielzahl an grenzüberschreitenden Kooperationen und Projekten. Doch oftmals werden diese nur von einzelnen Idealisten am Laufen gehalten. Alles in allem muss die deutsch-tschechische Begegnungsarbeit auf eine noch viel breitere Basis gestellt werden. Hier liegt natürlicherweise unser Arbeitsfeld als Ackermann-Gemeinde. Dass dies nicht im Vorbeigehen erledigt werden kann, muss uns nach den bisherigen Erfahrungen nach 1989 klar sein. Die deutsch-tschechische Nachbarschaft zu stärken, das ist vielmehr ein „ běh na dlouhou trať “ – ein Lauf auf langer Strecke. Und wer schon einmal an einem längeren Lauf teilgenommen hat, der weiß: Alleine hält man so etwas nicht durch. Im Team dagegen können sich Kräfte freisetzen, die man zuvor nie vermutet hätte, gemeinsam lässt sich so ein Marathonlauf bewältigen. Gehen wir es also gemeinsam an.

 

Martin Kastler MdEP a.D.

Bundesvorsitzender der Ackermann-Gemeinde und
Repräsentant der Hanns-Seidel-Stiftung für Mitteleuropa mit Sitz in Prag