Zeitzeugen und ihre Erlebnisse als Zugang zur Geschichte?

Sichtweisen anderer Generationen zuzulassen und historische Themen durchaus mal etwas provokativ darzustellen, um eine Beschäftigung damit anzuregen. Diese Aspekte wurden bei der Podiumsdiskussion der Ackermann-Gemeinde zum Thema „Geschichte – ein Monopol der Alten? Junge Zugänge zur deutsch-tschechischen Geschichte“ immer wieder deutlich. Dass dieses Thema Generationen übergreifend auf hohes Interesse stieß, zeigt die Tatsache, dass der Veranstaltungssaal bis auf den letzten Platz gefüllt war.

Anhand der von der Ackermann-Gemeinde in den letzten fünf Jahren stark bearbeiteten Thematik „Přemysl Pitter“ machte der Bundesgeschäftsführer der Ackermann-Gemeinde Matthias Dörr deutlich, dass Zeitzeugen für die Einordnung historischer Vorgänge sehr wichtig sind. Doch auf der anderen Seite werde oft deutlich, dass Vertreter der jungen Generation „nicht selten andere Auffassungen als die Erlebnisgeneration, andere wissenschaftliche Herangehensweisen“ haben und die jungen Leute nicht so stark in die Dinge involviert sind. Schließlich, so Dörr weiter, würden Zeitzeugenberichte Widersprüche bzw. Unterschiede aufweisen. „Alle sind Realität, passen aber nicht immer in die große Geschichte. Und die eigene Wahrheit, das Erlebte wird dann verabsolutiert, ein Monopol auf die selbst miterlebte Geschichte erhoben“, charakterisierte der AG-Geschäftsführer. „Erzählen Sie der jungen Generation Ihre Erlebnisse in der Geschichte, aber lassen Sie auch andere Sichtweisen gelten? Hinterfragen Sie Ihre Geschichtsbilder?“, appellierte Dörr an die Zuhörer und bat zugleich um Vertrauen für die kommenden Generationen, „sie halten die Geschichte und auch Ihre Geschichte lebendig“.

Die an der Podiumsdiskussion beteiligten jungen Frauen und Männer aus Tschechien und Deutschland stellte der Moderator, BR-Journalist Sebastian Kraft, vor. Gemeinsam ist allen, dass sie nach der Wende das jeweilige Nachbarland kennen gelernt haben und damit auch den Um- bzw. Zugang mit und zur jüngsten Geschichte. Der aus Mies stammende und in Prag tätige Fotograf Lukáš Houdek etwa hatte sich mit der Minderheit der Roma im Zweiten Weltkrieg beschäftigt sowie mit einem Projekt über Friedhöfe und war dabei auf das Thema „Vertreibung der Sudetendeutschen“ gestoßen. „Es gab wenig Informationen und wenig Fotos darüber. Aber es ist wichtig, heute darüber zu reden, es nicht zu verschweigen. Viele Tschechen stellen sich zu dem Thema, als ob nichts passiert wäre oder dass es in Ordnung war“, stellte Houdek unmissverständlich fest. Also überlegte er, wie er das Thema „Vertreibung“ umsetzen könnte. Er entschied sich, einige Szenen mit Puppen nachzustellen und diese zu fotografieren. Gleichermaßen positive wie negative Reaktionen waren die Folge. Fotos aus der Serie wurden an großen Plakatwänden in Prag aufgehängt.

Einen Zugang zur Geschichte über die Erlebnisgeneration hält Samuel Raz aus Dachau vom Bundesvorstand der Jungen Aktion der Ackermann-Gemeinde – mit Ausnahme der eigenen Großeltern – nicht für nötig. Zeitzeugen bringen für ihn „nicht viel historischen Mehrwert“, er vertraut vielmehr auf Archive und Bibliotheken oder identitätsstiftende Einrichtungen wie etwa die deutsche Minderheit in Prag bzw. Böhmen. „Ich möchte die Deutungshoheit für mich selbst und nicht in eine politische Ecke gelangen. Die Deutung muss nicht politisch sein“, konkretisierte Raz und charakterisierte den familiären Bezug als emotionalen Zugang zur Geschichte.

„Wir sollten den Leuten die Chance geben, ihre Sicht der Geschichte zu erzählen“, meinte dagegen die Studentin Verena Hesse, die ein freiwilliges soziales Jahr in Olmütz gemacht hat und jetzt in Frankfurt an der Oder studiert. In Olmütz wurde sie mit vielen, oftmals tragischen und traumatischen Erlebnissen älterer Leute konfrontiert. „Mit der Zeit lernt man die Leute besser kennen, um da oder dort auch mal zu widersprechen. Ich habe aber nicht das Recht, darüber zu urteilen oder diese Schilderungen als falsch hinzustellen, höchstens die Ansichten für mich selbst in einen Kontext zu setzen. Es bleibt die Frage: Kann ich mich damit identifizieren?“, beschrieb Hesse ihre Erfahrungen und plädierte eindeutig für die Zeugnisse der älteren Generation als Zugang zur Geschichte.

Die Defizite selbst nach der Wende in Tschechien beim Geschichtsunterricht sprach die aus Pilsen stammende und jetzt in München lebende Germanistin Kateřina Kovačkováan. Erst im Studium sei sie mit Literatur (z.B. Mühlberger, Preußler) in Kontakt gekommen, in der das Thema „Vertreibung“ (Sehnsucht nach Heimat, Unrecht) angesprochen wurde. „Mit der Buchlektüre hat sich mir eine andere Sichtweise erschlossen, aber auch durch Erzählungen von Vertriebenen aus Böhmen und Mähren“, schilderte sie ihren Zugang zu diesem Teil der deutsch-tschechischen Geschichte. Besonders beim Germanistik-Studium in Deutschland, „beim Seitenwechsel“ habe sie viel dazugelernt. „Das Thema 'Vertreibung' gehört in die öffentliche Diskussion“, appellierte sie an ihre Landsleute. „Die tschechische Gesellschaft ist noch nicht reif, man kann nicht auf Konfrontationskurs gehen. Die gleiche historische Person (Edvard Beneš, Anm. der Redaktion) wird unterschiedlich dargestellt. Die tschechische Gesellschaft muss für bestimmte Themen noch reifen bzw. darauf vorbereitet werden. Und das Thema 'Vertreibung der Deutschen aus Böhmen, Mähren und Schlesien' kann man nicht verschweigen, aber man kann es den Menschen auch nicht um die Ohren schlagen“, vertiefte Kovačková.

In der Publikumsdiskussion ging es unter anderem um die Bedeutung und die Aufhebung der Beneš-Dekrete (bzw. der die Vertreibung betreffenden Artikel), die mehrmals auch als Symbol auf beiden Seiten gesehen wurden. Es wurden Beispiele dafür genannt, dass in Tschechien das Thema „Vertreibung“ offen genannt wird wie etwa beim Rockfestival in Trautenau, in der Literatur, in der Arbeit der in Tschechien verbliebenen Deutschen oder auch von „Antikomplex“. Aber auch die Defizite deutscher Jugendlicher bzgl. der deutsch-tschechischen Geschichte wurden ebenso angesprochen wie die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit dem Erbe der Vorfahren und die auf beiden Seiten bleibenden und jeweils dort zu behandelnden Traumatas. Dass in tschechischen Geschichtsbüchern inzwischen die Vertreibung genannt und im Unterricht auch vermittelt wird, bestätigte ein in Prag tätiger Lehrer, der zudem die Beneš-Dekrete sofort abschaffen würde.

Markus Bauer

Es diskutierten (v.r.n.l.): Samuel Raz,<br/ >Verena Hesse, Sebastian Kraft (Moderator),<br/ >Kateřína Kovačková, Lukáš Houdek.