Wir brauchen mehr Dialog in Europa

In der Reihe "Zur Diskussion" macht sich Dr. Stefan Vesper, ehemaliger Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) und Vorsitzender des Verwaltungsrates des Osteuropahilfswerkes Renovabis, Gedanken zu der Frage, was der Beitrag der Christinnen und Christen für Europa sein soll. Dabei betont er, dass sie mehr aufeinander hören und miteinander im Gespräch sein sollten.

„Europa lohnt jede Anstrengung...“ ist ein Satz, der sich mir früh eingeprägt hat. Europa ist ein faszinierender, anstrengender Kontinent. Zwar ist er im Vergleich klein, aber es gibt so viele Sprachen, Kulturen, so viel Geschichte, so viel Gegeneinander aber auch Miteinander. So viel Kraft und Kreativität. Europa ist ein politisches Projekt, bei dem mir die Tränen kommen könnten... Es ist eine Sehnsucht, ein Kraftakt, ein unlösbares Problem, ein Traum. Und was ist der Beitrag der Christen? Ich muss biographisch beginnen...

Geboren in Düsseldorf 1956, habe ich ganz langsam, als Kind, als Jugendlicher, verstanden, dass es auch andere Länder und Sprachen gibt. Mein Bruder und ich fuhren mit unseren Eltern jedes Jahr an den gleichen Ort in Holland an der See. Erst später begriff ich, dass uns dort als Deutschen in den Niederlanden auch Ressentiments entgegenschlugen, die mit dem Krieg zu tun hatten. Als Kind bemerkte ich das nicht. Aber die Grenze, das andere Geld, die andere Sprache waren mir bewusst.  Später, als Jugendlicher, hatte ich eine französische Freundin, wir besuchten uns gegenseitig in unseren Familien und Lebenswelten, lernten unsere Sprachen, von Düsseldorf bis Paris waren es sieben Zugstunden (heute gut vier)  und es gab mehrfache Ausweiskontrolle (inzwischen gemeinsam im „Schengenraum“.) 1989 hörte ich fasziniert von der Europäischen Ökumenischen Versammlung „Frieden in Gerechtigkeit“ in Basel und verfolgte die Berichte im Fernsehen und in den Zeitungen. Übrigens: Zeitzeugen von Basel leben noch. Es ist die Sache wert, sie einzuladen und mit ihnen zu bedenken, was damals war und heute ist.

Nach Basel kam die Zweite Europäische Ökumenische Versammlung in Graz 1997 (EÖV2), hier durfte ich für den Rat der Europäischen Bischofskonferenzen der Versammlungssekretär sein. In Sibiu, Rumänien, bei der EÖV3 im Jahr 2007 war ich Delegierter. Im Zusammenhang mit der Versammlung in Graz 1997 überraschte mich im ersten Augenblick das Thema „Versöhnung, Gabe Gottes und Quelle neuen Lebens“. Ich gestehe, ich fand das im ersten Moment irgendwie sehr fromm – und wenig politisch. Das war, ich muss es bekennen, ein ziemlich törichter Gedanke. Denn Europa ist auch der Kontinent langer Spannungen, Kriege und Konflikte – und Versöhnung ist ein sehr wichtiges Thema bis heute. Gerade wenn ich mich an die Ackermann-Gemeinde wende, liegt das auf der Hand. Aber ich bekenne, damals war mein Horizont so begrenzt wie der vieler meiner Zeitgenossen. Gut, dass ich dazulernen konnte, wie alle, die an der Versammlung in Graz teilnahmen. Es waren 720 offiziell von den Kirchen nominierte Delegierte und 10.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Ein kleiner und nicht so genannter, aber faktischer Europäischer Ökumenischer Kirchentag. Das Schlussdokument ist heute noch lesenswert.

Ich möchte eine Tatsache über die Wirklichkeit in Europa ins Gedächtnis rufen, die fast banal ist, die ich aber zugleich für fundamental halte: Jede und jeder von uns, nehmen wir uns Christen in Deutschland, bewegt sich in einem Sprach- und Kulturraum. Wir lesen Zeitungen, agieren in Sozialen Netzwerken, denken mit, reden mit, engagieren uns. Dabei bleibt ein wesentlicher Teil Europas aber außen vor: wir lesen nicht regelmäßig andere Zeitungen, wir schauen nicht regelmäßig anderes TV, die Marietta Slomkas oder, ganz was anderes, Thomas Gottschalks der anderen Länder kennen wir nicht. Es gibt kaum eine „Europäische Öffentlichkeit“, wie sie die Katholiken in Deutschland und in Frankreich schon vor zwei Jahrzehnten forderten. Übrigens ist das damalige Manifest auch auf Tschechisch erschienen. Ohne europäische Öffentlichkeit gibt es aber keine europäische Gesellschaft, ohne europäische Gesellschaft keine europäische Demokratie und ohne europäische Demokratie kein wirklich vereinigtes Europa. Ich bin überzeugt: Wir wissen zu wenig voneinander, weil wir zu wenig miteinander reden, zu wenig von einander lesen, zu wenig gemeinsame Zeitschriften oder Fernsehsendungen haben, deren Themen wir über die Ländergrenzen hinweg diskutieren. Politische, kulturelle, gesellschaftliche, nicht zuletzt auch praktisch-populäre Debatten spielen sich in nationalen Diskursen ab, die an die Sprache gebunden sind. Vor einigen Jahren hat eine kleine Untersuchung der meistverkauften Sachbücher eine bunte Vielfalt präsentiert: In Deutschland war es damals Kerkelings „Ich bin dann mal weg“, in Polen die Erinnerungen von Kardinal Dziwisz, in Frankreich ein Buch über die bedrückende Situation in den Schulen, in Italien über die unfassbaren Privilegien der Politiker und Staatsdiener. Und im heutigen Brexit-Land England waren es zwei Ernährungsratgeber. Schon vor Jahren hörte ich die Aufforderung, dass jeder Europäer drei Sprachen sprechen sollte: seine Muttersprache, Englisch und eine beliebige andere europäische Sprache. Damit auch das mal gesagt ist: allen Mitgliedern der Ackermann-Gemeinde, die sich versuchen, dem Tschechischen zu nähern, gar es zu lernen und zu sprechen, gilt mein höchster Respekt!

Als Generalsekretär des ZdK habe ich mich dann stark im Europäischen Laienforum (ELF) engagiert und zeitweise auch die Aufgabe des Sekretärs übernommen. Wir hatten alle zwei Jahre große Begegnungen zu wichtigen Themen. All dies war wichtig, aber es ist nie genug – es muss weitergehen. Wichtig ist natürlich auch, gerade was Mittel- und Osteuropa angeht, die Arbeit von Renovabis, dieser Solidaritätsaktion der Katholiken in Deutschland.

Einen kurzen Moment möchte ich vom politischen auf das innerkirchlich-katholische Feld wechseln. Von Anfang an haben die Träger des Synodalen Weges, die Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) Wert darauf gelegt, die zehn Europäischen Nachbarstaaten unseres Landes zu bitten, Vertreterinnen und Vertreter als Beobachter zu entsenden. Sie sind eingeladen und nehmen teil, oft je ein Bischof und ein Laie. Ich habe mich sehr gefreut, bei der Jubiläumsfeier zu 75 Jahren Ackermann-Gemeinde in Prag in diesem Sommer vom Synodalen Weg berichten zu können. Die Katholiken sind in Europa eine große und starke Gemeinschaft, wie gut wäre es, wenn sie mit einer Stimme sprechen würden! Im Moment ist der Luxemburger Kardinal Hollerich der Sprecher der Europäischen Bischofskonferenzen in der Union (COMECE). Warum sollte nicht ein gewählter Laie, Mann oder Frau, für die Katholiken des ganzen Europas sprechen, auch über die EU hinaus?

Die Katholiken haben zwar ein gleiches Wertegerüst, aus der Gottebenbildlichkeit folgern fundamental wichtige Positionen zum Lebensschutz vom Anfang bis zum Ende, zur Todesstrafe, zur sozialen Gerechtigkeit, zu allen Fragen der Menschenwürde. Und klare Orientierungen zu Personalität, Subsidiarität, Solidarität, Gemeinwohl und Nachhaltigkeit gibt es nicht zuletzt in der Katholischen Soziallehre. 

Trotzdem leben katholische Christen in Europa viele Fragen und Probleme unterschiedlich aus. Sie engagieren sich in unterschiedlichen politischen Parteien. Ganze Nationen – ja, den Begriff gibt es noch und soll ihn auch in einem vereinten Europa weiter geben – haben zu gesellschaftlichen Fragen unterschiedliche Positionen: die Mehrheit der Franzosen befürwortet die Atomkraft, die Mehrheit der Deutschen hält sie für nicht verantwortlich.

Die Christen in Europa, die Katholiken besonders, müssen, weil sie (zum Glück und als besonderes Geschenk) eine Kirche sind, weil sie gleichberechtigte Teile einer großen Weltgemeinschaft sind, aufeinander hören, miteinander im Gespräch sein, einander respektieren. Unterschiedliche Positionen zu Sachfragen sind kein „Unfall“. Sie sind normal. Es braucht das Gespräch, um sich zu verstehen. Dass wir uns in Europa nicht mehr bekämpfen, dass wir uns anhören, dass wir Verständigung und Versöhnung suchen, dass wir in den Gedanken des anderen keine Bedrohung mehr sehen, sondern eine interessante Bereicherung – ist das nicht schon, bei allen Problemen, ein Traum, der sich mitten unter uns realisiert? Wir brauchen mehr davon!

Dr. Stefan Vesper
Generalsekretär des ZdK in Bonn 1999-2019

 

Dr. Stefan Vesper Dialog Christen in Europa