Wie kann Vergebung gelingen?

In einem Vortrag auf dem Sudetendeutsche Tag warf auf Einladung der Ackermann-Gemeinde Dr. med. Martin Grabe warf die Antwort auf, wie Vergebung nach Unrechtserfahrungen gelingen kann.

„Vergebung“ – dieses vor allem aus dem christlichen Glauben stammende Handeln – bildet heuer einen thematischen Schwerpunkt in der Arbeit der Ackermann-Gemeinde. Neben einem einführenden Beitrag in der Verbandszeitschrift „Der Ackermann“ stand das Thema kürzlich beim 98. Deutschen Katholikentag in Mannheim (neben der Ausstellung „The Forgiveness Project“) auf dem Programm. Auch beim Sudetendeutschen Tag bot die katholische Gemeinschaft für mitteleuropäische Nachbarschaft am Nachmittag des Pfingstsamstags einen Vortrag zur Thematik „Vergebung – Wege zu einem befreienden Umgang nach Unrechtserfahrungen“. Hauptreferent war der in Oberursel praktizierende Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. med. Martin Grabe.

Nach der Begrüßung durch den Bundesgeschäftsführer der Ackermann-Gemeinde Matthias Dörr, der unter den rund hundert Zuhörern unter anderem den Bundesvorsitzenden der Ackermann-Gemeinde MdEP Martin Kastler und den stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Sudetendeutschen Landsmannschaft Siegbert Ortmann willkommen heißen konnte, führte Monsignore Anton Otte in das Thema der Veranstaltung ein. Dieser machte auf die Schwierigkeit dieses Aspektes aufmerksam, aber auch darauf, dass „man als Priester die Vergebung verkündigen“ müsse – bei der Wandlung, wo es heißt „zur Vergebung der Sünden. Tut dies zu meinem Gedächtnis“. Daraus werde deutlich, so Otte, dass für Gott die Vergebung eine äußerst wichtige Angelegenheit sei und der Mensch sich ebenso – als Gottes Ebenbild – um Vergebung bemühen müsse. „Die menschliche Vergebung geht nicht ohne Gott, sonst hätte er nicht einen solch hohen Einsatz – den Kreuzestod seines Sohnes – inszeniert“, fasste der Geistliche zusammen.

Mit allgemeinen Aspekten im Kontext von Vergebung stieg Dr. Grabe in seinen Vortrag ein. Das Loslassen von Verletzungen nannte er hier ebenso wie Kränkungen und emotionale Belastungen, aber auch Hass und Rache oder die Entstehung von Phantasien. „Viel Zeit und Energie ist damit gebunden, tief sitzender Groll, die Versteifung zu einer negativen Lebenseinstellung. Die Psyche versucht, das Lebensgefühl wieder herzustellen“, verwies er auf weitere Faktoren. Laut Grabe gibt es verschiedene Wege zur Vergebung, wobei der christliche Glaube eine Herangehensweise beinhaltet. Dass bei einer Vergebung meistens auf Wiedergutmachung verzichtet wird, verschwieg der Referent ebenfalls nicht.

Auf drei Aspekte im Kontext der Vergebung ging der Mediziner näher ein: das Verstehen, die Relativierung und den Ausgleich – „jeweils ein eigener Weg, um zur Vergebung zu kommen“, erläuterte Grabe. Beim „Verstehen“ steht das Bemühen um Erklärungen im Vordergrund, der Kontext des Handelns wird einbezogen und auf dieser Basis eine neue Sicht der Dinge bzw. Vorkommnisse gefunden. „Man muss auch verstehen wollen“, brachte es Grabe auf den Punkt. Bei der „Relativierung“ hingegen wird das zugefügte Unrecht mit dem selbst geleisteten Unrecht verglichen, also auf der gleichen Ebene betrachtet, was sich dann auf die Beurteilung auswirkt. „In einem spirituellen Rahmen gewinnt die Relativierung erst richtig an Bedeutung“, vertiefte der Arzt, nannte aber auch den Faktor „Selbstgerechtigkeit“ als psychologischen Hemmschuh, um zu einer Relativierung und damit zur Vergebung zu kommen. Darüber hinaus gibt es Verletzungen, „die so tief in den Schichten unseres Unterbewussten liegen, dass eine Vergebung nicht möglich ist“, relativierte Grabe. Die dritte Form, der Ausgleich, ist nicht mit Vergebung gleichzusetzen, sondern bedeutet vielmehr, dass der Täter für das, was er getan hat, zwar bezahlen muss (Wiedergutmachung) – doch schweres Unrecht, seelische Verletzungen usw. können damit nicht ausgeglichen werden, Rache- und Hassgedanken beim Opfer können bleiben.

Hier schlug der Referent die „Delegation“ vor – die Übergabe einer Rechtssache an ein Gericht und – auf spiritueller Ebene, für Gläubige – die Weitergabe der Rache an Gott. „Die wahre und tiefste Gerechtigkeit ist bei Gott. Auf Worte und Taten der Rache zu verzichten, diese an Gott abzugeben, auch das ist Vergebung. Die Rache abzugeben, das kann etwas sehr Entlastendes sein. Denn solange der Mensch hasst, ist er nicht frei“, verdeutlichte der Referent. Er machte aber auch deutlich, dass der Prozess der Vergebung sehr lange dauern kann.

Zum Schluss seines Vortrags ging Grabe auf die Heimatvertriebenen ein. „Aus der Heimat vertrieben, von Wurzeln abgeschnitten zu werden, das gehört zum Schlimmsten, was dem Menschen passieren kann. Es bleiben offene Wunden“, stellte er fest und sprach vom „Unrecht der Vertreibung“. Natürlich gebe es individuell sehr unterschiedliche Schicksale und Traumata. Grundsätzlich meinte Grabe hierzu, dass der Weg der Delegation der richtige sei, wenn ausreichend Zeit vergangen ist. „Manchmal gelingt es, beide Seiten sehen zu können, nicht mehr seelisch an den Täter und den Hass gekettet zu sein“, fasste er diesen Aspekt zusammen. Hinsichtlich der jüngeren Generation sah der Mediziner die Globalisierung und das zusammenwachsende Europa als positive Aspekte, die Heimat der Vorfahren in einem neuen Kontext zu sehen.

Markus Bauer

Grabe (r.): "Solange der Mensch hasst, ist er nicht frei."