Wenn wir in Europa nicht miteinander, sondern übereinander reden: Über die Rassismus-Vorwürfe gegen Slavia Prag

Weitgehend unbemerkt von den deutschen Medien ist in diesem Frühjahr im tschechischen Fußball eine Rassismus-Debatte ausgebrochen – mit Slavia Prag in der Hauptrolle. Dieser hat die Erfolge auf europäischer Ebene (unberechtigterweise?) überschattet. Der Streit steht im Zusammenhang mit der Diskussion um die Black Lives Matter-Bewegung und zuletzt häufigen tschechisch-britischen Fußballbegegnungen – die es bei der EM im Sommer erneut geben wird. Christoph Mauerer, Mitglied im Bundesvorstand der Ackermann-Gemeinde, stellt diesen Konflikt vor und deutet diesen.

Im Viertelfinale der Europa League traf Slavia Prag auf die Glasgow Rangers. Nach einem 1:1 in Prag stand am 18. März 2021 das Rückspiel in Schottland an. Slavia war spielbestimmend und siegte 2:0. Die Rangers ließ sich davon zu einer überharten Spielweise provozieren und beendeten die Partie nach zwei Platzverweisen zu neunt. Unter anderem wurde Stürmer Kemar Roofe nach einem brutalen Foul an Torhüter Ondřej Kolář mit glatt Rot vom Platz gestellt – nachdem er Kolář mit den Stollen voraus im Gesicht traf, musste dieser mit Schädelfraktur vom Platz getragen werden. Der Titel des Youtube-Videos „Kemar Roofe attempted to kill | Rangers - Slavia Prag“ ist kaum übertrieben.

In dieser aufgeheizten Atmosphäre kam es in der Schlussphase zu der einen Szene, die nun seit Wochen die Debatte bestimmt: Nach einem weiteren Foul an einem Slavia-Spieler ging Ondřej Kúdela zum dunkelhäutigen Glen Kamara und flüsterte ihm mit der Hand vor dem Mund kurz etwas ins Ohr – worauf Kamara sofort wütend reagierte und sich beschwerte, er sei rassistisch beleidigt worden.

Ein großes Missverständnis?

Nach dem Spiel konkretisierte der finnische Nationalspieler mit Wurzeln in Sierra Leone seine Vorwürfe: Kúdela habe zu ihm „You are a fucking monkey“ gesagt (etwa ‚Du bist ein verdammter Affe‘). Kúdela erklärte, er habe Kamara lediglich mit den Worten „You are a fucking guy“ beleidigt (etwa ‚Du bist ein verdammter Kerl‘), also ohne rassistischen Kontext.

Damit steht Aussage gegen Aussage – denn außer Kamara hatte es niemand gehört. Trotzdem stellte sich die britische Presse und Fußball-Öffentlichkeit voll auf die Seite der Rangers. Von Selbstkritik angesichts der eigenen unfairen Spielweise war dagegen vom schottischen Meister nichts zu hören. In Tschechien hingegen herrschte die Meinung vor, dass die Rangers sich nur als schlechte Verlierer aufführen und von ihren roten Karten ablenken würden. Slavia beschuldigte Kamara außerdem, nach dem Spiel im Kabinentunnel Kúdela mit den Fäusten ins Gesicht geschlagen zu haben, wofür es Zeugen gab.

Kontroverse um das BLM-Niederknien: Sinnvolle Symbolik oder Verherrlichung linksradikaler Chaoten?

Die nächste Runde der britisch-tschechischen Auseinandersetzung gab es gleich in der darauffolgenden Länderspielpause, als Tschechien in Wales spielte. Die Waliser knieten, wie dies im britischen Fußball seit letztem Jahr regelmäßig praktiziert wird, vor dem Spiel nieder. Diese Geste gilt als Unterstützung der antirassistischen Black Lives Matter-Bewegung (BLM) in den USA. Die tschechischen Spieler knieten nicht nieder, sondern zeigten stattdessen mit einem Finger auf die Aufschrift „UEFA Respect“. Dies war ebenfalls als Geste gegen Rassismus gedacht, wurde von den britischen Fans jedoch nicht bemerkt.

Vergangenes Jahr hatten sich die tschechischen Nationalspieler beim Länderspiel in Schottland dem Niederknien angeschlossen – und dafür eine Welle der Kritik geerntet, außer von Fans auch von populistischen Politikern wie Tomio Okamura oder Václav Klaus jun. Der Grund liegt wohl in einer unterschiedlichen Auffassung vom BLM. Der Großteil der tschechischen Medien hatte vor allem von den Gewaltexzessen am Rande der Demonstrationen berichtet; Hintergrundberichte zur Polizeigewalt gegen Afroamerikaner und rassistischer Diskrimierung im Allgemeinen gab es kaum. Auch Präsident Miloš Zeman, ein erklärter Trump-Fan, äußerte sich ablehnend zum Slogan Black Lives Matter; Zeman zufolge sei dieser selbst rassistisch, da es ja schließlich auf alle Leben ankäme. Des Weiteren argumentierten tschechische Fans nach dem Schottland-Spiel, dass Tschechien anders als Großbritannien keine Kolonien hatte und es daher für Tschechien bezüglich Rassismus nichts aufzuarbeiten gebe.

Im EL-Viertelfinale gegen Arsenal London dachte sich Slavia eine neue Anti-Rassismus-Geste aus. Die Arsenal-Spieler knieten vor dem Anpfiff nieder. Die Slavia-Mannschaft, zu der auch mehrere afrikanische Spieler gehören, stellte sich dagegen Arm in Arm am Mittelkreis auf. Dies sollte symbolisieren, dass sie alle, egal welcher Herkunft, wie eine Familie seien. Während Arsenal für seine Geste positive Reaktionen erhielt, würde die Slavia-Geste im Ausland übersehen.

Ondřej Kúdela erhielt von der UEFA schließlich eine Sperre von zehn internationalen Spielen – und dies, obwohl auch der zuständige UEFA-Ermittler in einer ersten Stellungnahme davon sprach, dass er „angesichts dessen, dass es keine überzeugenden Beweise zur Bestimmung des Inhalts der Aussage Herrn Kúdelas gibt“ nicht in der Lage sei, die Vorwürfe zu bestätigen oder zu widerlegen. Kamara wurde für seinen tätlichen Angriff auf Kúdela nach Spielende für drei Spiele gesperrt. Und Kemar Roove muss für seinen lebensgefährlichen Kung Fu-Tritt gegen Torwart Kolář vier Spiele lang pausieren.

Für viele britische Fans ist die 10-Spiele-Sperre Kúdelas viel zu niedrig – für die meisten tschechischen Fans jedoch völlig ungerechtfertigt. Auch tauchten zynische Kommentare auf, dass Kúdela seinen Gegenspieler das nächste Mal nicht beleidigen solle, sondern gleich mit dem Fuß ins Gesicht treten – denn dafür gebe es ja schließlich nur vier Spiele Sperre.

Überhaupt erscheint es so, dass in diesem Streit zwischen Fußball-Fans auch ganz viel an „Ost-West“-Trennlinien drinsteckt. Viele tschechische Fans fühlen sich in der Diskussion von der britischen Seite in herablassender Weise als „Osteuropäer“ behandelt. Populistische Kreise wiederum fühlen sich in ihrer Meinung bestärkt, dass der ganze Kampf gegen Rassismus, der vom „Westen“ so betont wird, ohnehin Unsinn sei und dies alles in Tschechien nicht nötig wäre.

Hat Tschechien also keine Probleme mit Rassismus?

Die führende tschechische Wochenzeitschrift Respekt befragte in ihrer Berichterstattung zum Fall Kúdela jemanden, der es wissen muss: Theodor Gebre Selassie, den ersten tschechischen Fußball-Nationalspieler dunkler Hautfarbe. Er wurde als Sohn eines äthiopischen Vaters in Tschechien geboren und absolvierte 53 Landerspiele, einige davon auch als Mannschaftskapitän. Er beschreibt im Interview, dass er sich als junger Spieler in der tschechischen Liga an rassistische Beleidigungen durch Zuschauer gewöhnt hatte; in seinem Auslands-Engagement bei Werder Bremen sei ihm in neun Jahren jedoch kein einziges Mal etwas Derartiges widerfahren.

Die Zeitschrift Respekt verweist in der gleichen Ausgabe darauf, dass für tschechische Fußball-Fans das Gleiche gilt wie für die Gesamt-Gesellschaft: In Tschechien gibt es fast keine Einwanderer außereuropäischer Herkunft (s. dazu diesen Artikel des englischsprachigen Online-Magazins Kafkadesk). Und ohne die Möglichkeit persönlicher Erfahrung – dieses Phänomen ist auch aus Ost-Deutschland bekannt – lassen sich in Zeiten großer Migrationsbewegungen negative Stereotype durch populistische Kreise leicht verbreiten. In so einer Atmosphäre kann nicht nur Alltags-Rassismus gegen Roma oder Vietnamesen gedeihen, sondern es mitunter zu geradezu irrationaler Hysterie kommen: Als 2017 in einem Lidl-Prospekt Männermode mit einem dunkelhäutigen Model beworben wurde, gab es Kunden, die sich auf Facebook gegen „diese Multikulti-Propaganda“ beschwerten und „tschechische Models“ forderten.

Ist die harte Strafe gegen Kúdela dann nicht vielleicht ein sinnvolles Signal? Nein, meint Theodor Gebre Selassie. Er findet, dass diese so schwer zu beweisenden Vorwürfe dem Kampf gegen Rassismus nicht nützen.

In diesem Sommer geht die Debatte wohl in die Verlängerung. Denn bei der Europameisterschaft ist Tschechien in einer Gruppe mit Schottland und England. Vielleicht könnten die Medien in Großbritannien (wie auch in Deutschland) bis dahin ebenfalls ein Interview mit Theodor Gebre Selassie veröffentlichen - um statt oberflächlichem Tschechien-Bashing differenziertere Überlegungen bieten zu können. Gleichzeitg wäre es aber wohl ebenso wünschenswert, wenn sich die tschechische Medienlandschaft als Ganze dem Problem Rassismus tiefgehender widmen würde.

Nach de Magazin Respekt ist es wohl nicht das Problem an sich, der Rassismus, das den Unterschied darstelle, sondern die unterschiedlichen Einstellungen diesem Problem gegenüber. Und wenn, so die Autoren Tomáš Lindner und Jiří Sobota, dieser aktuelle „tschechisch-britische Kulturkampf“ dazu führen würde, dass sich der tschechische Fußball konsequenter von rassistischen Auswüchsen seiner Fans distanzieren würde, so wäre dies am Ende doch ein ganz gutes Ergebnis.

 

Christoph Mauerer ist Mitglied der Ackermann-Gemeinde und gehört dem AG-Bundesvorstand an. Er lebt in Prag und ist Slavia-Fan – seit ihn bei seinem ersten Tschechien-Aufenthalt seine Freunde ins Eden-Stadion mitnahmen und ihm zum 20. Geburtstag ein Slavia-Trikot schenkten, kann es für ihn nur eines der beiden „Prager S“ geben.

Magazin Respekt Rassismus Theodor Gebre Selassie
„Wer ist hier Rassist?“, fragt die Wochenzeitschrift Respekt. Und weiter: „Der Streit um das Slavia-Schimpfwort ebbt nicht ab. Warum glaubt die Welt, dass die Tschechen Rassisten sind?“ Die zmijovka-Mütze charakterisiert Kúdela in dieser Zeichnung einerseits als tschechischen Hinterwäldler. Das chinesische Schriftzeichen in der Sprechblase verweist andererseits auf die chinesischen Eigentümer Slavias und somit auf die globale Vernetztheit des heutigen Fußballs. Die Sprechblase zeigt zudem die Möglichkeit auf, dass der ganze Skandal am Ende nur ein ‚Lost in translation‘-Missverständnis gewesen sein könnte.