Was ist vom II. Vatikanum geblieben?

Der Beginn des II. Vatikanischen Konzils vor 50 Jahren war auch Thema des Bundesvorstands der Ackermann-Gemeinde am 12./13. Oktober 2012 in Nürnberg. Msgr. Dieter OIbrich, Bundesvorstandsmitglied, Vorsitzender des Sozialwerks und sudetendeutscher Visitator, erinnerte in seiner Predigt an die kirchliche Aufbruchstimmung und schilderte ganz persönlich sein Erleben. Dabei stellte er auch die Frage, was vom II. Vatikanum geblieben ist.

„Am 11. Oktober 1962, also vor genau 50 Jahren, saß ein 14jähriger Bub fasziniert vor dem Schwarz-Weiß-Fernseher und schaute begeistert einer unvergleichlichen Zeremonie zu. Bischöfe ohne Ende zogen in die Peterskirche in Rom und ein alter Mann mit viel Güte begeisterte den Jungen durch seinen jugendlichen Charme und sein mitreißendes Wesen. Der alte Mann war Papst Johannes XXIII und der 14-jährige Bub war ich – das Ereignis war die Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils. Ich weiß es genau, damals kam mir der erste Gedanke Priester zu werden – ein Mann wie Johannes XXIII begeisterte mich, eine Kirche, die mutig aggiornamento, offen für die Welt schien – war das nicht ein Lebensentwurf der sich lohnte?

Also, fünfzig Jahre liegt die Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils zurück. Anlass genug, dass wir uns ernsthaft realistisch fragen: Ist das Konzil noch aktuell? Fragt man junge Leute, zum Beispiel im Religionsunterricht, so stellt man fest, dass das zweite Vaticanum für sie vom Empfinden her genauso weit zurückliegt wie das Tridentium. Und in der Kirche selbst? Hat man nicht häufig den Eindruck, dass Angst, Kleinmut, Unsicherheit und Vorsicht ihr heutiges Denken und Verhalten prägen? Wo sind der Schwung, die Begeisterung und Offenheit des Konzils geblieben? Sind wir nicht in manchem schon wieder hinter das Konzil zurückgefallen?

Grund genug ein wenig über dieses – mich prägende aber auch unsere Kirche prägende Ereignis – nachzudenken. Es war ein Konzil besonderer Art. Nicht äußere Umstände haben die Kirche dazu veranlasst, sondern der Papst hatte es auf Grund einer „inneren Erhebung“, wie er selbst sagte, ausgerufen, um die Kirche für ihre Zukunftsaufgaben zu rüsten. Und das zu Beginn der 60er Jahre, in denen es dann zu tief greifenden Umbrüchen in der Gesellschaft kommen sollte. Die Kirche diesmal einer Herausforderung zuvorzukommen und nicht erst; wie heute so oft, auf eine zu reagieren. Die Erwartungen an das Konzil waren überaus groß. Auch bei mir, meinen Eltern und Freunden wurde die 68ger-Bewegung in der Kirche vorweggenommen.

Die Erwartungen zeigten sich nach innen und nach außen – es entstanden neue Sichten von Kirche. Beide neuen Kirchensichten faszinierten und begleiten mich bis heute. Nach inne wählte man aus den vielen Kirchenbildern jenes vom Volk Gottes.

Kirche ist also zuallererst Gemeinschaft, in der die Hierarchie eine dienende Funktion hat. Diese Gemeinschaft (Communio) verlangt ein neues Verhältnis zwischen Bischofskollegium und Papst und stärkt die Ortskirchen (Dezentralisierung). Das Konzil entdeckte wieder das „gemeinsame Priestertum, das dem Weihepriestertum vorausgeht (gleiche Würde aller Getauften und dadurch Mitverantwortung der „Laien“). Wir fanden uns wichtig und bedeutend ernst genommen. Das Diakonat wurde als selbstständige Weihestufe wieder entdeckt und ihr Gewicht gegeben.

Die Gedanken der Pfarrgemeinderäte entstanden und wurden von vielen dankbar angenommen. Nach außen öffnete sich die römisch-katholische Kirche zur christlichen Ökumene – evangelische, orthodoxe und frei-kirchliche Vertreter nahmen als ernst genommene Beobachter an allen 178 Sitzungen des Konzils teil.

In der Pastoralkonstitution „Die Kirche in der Welt von heute“ entwarf das Konzil ein überaus positives Menschenbild. Es ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, „wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinen Innersten zu hören ist.“ (GS 16) Das ist eine Schlüsselstelle des Konzils. Die Aufwertung des Gewissens machte erst andere Aussagen möglich, wie die über Religionsfreiheit, Ökumenismus, aber auch über neue Ansätze in der Moraltheorie. Von meinen Eltern begeistert aufgenommen: Eine neue Sicht der Ehe: Der erste Zweck der Ehe ist nicht mehr die Zeugung von Kindern wie bisher. Ehe ist die „innige Gemeinschaft des Lebens und der Liebe“, die offen sein soll für die Weitergabe des Lebens. Damit werden die Ehezwecke neu gesehen, damit wird Sexualität als Zeichen der Liebe und zur Wahrnehmung der Treue auch in ihrem Eigenwert dargestellt. Aufmerksamkeit erregte die Aussage über die „verantwortete Elternschaft“. Eine neue Sicht der Welt: Sie steht nicht mehr als rein „Irdisches“ dem Geistlichen“ fast bedrohend gegenüber, sondern es ist die von Gott geschaffene Welt. Die Kirche bietet der Welt ihre Hilfe aus dem Glauben an, respektiert aber auch die rechte Autonomie der Welt und weiß, was sie der Welt im Laufe der Geschichte zu verdanken hat.

Heute frage ich mich, was von diesem Aufbruch geblieben ist – bei aller Kritik darf man nicht übersehen, mit welcher Selbstverständlichkeit von den Früchten des Konzils leben: in der Liturgie, in den Bibelwissenschaften, in der Ökumene, im Dialog mit anderen Religionen.

Aber diese große Zustimmung hat Erwartungen geweckt. Heute bin ich viel nüchterner, aber denke wann und wo kann heute ein 15jähriger vor dem Fernseher sitzen und mit Begeisterung auf diese Wende in einer solch offenen Kirche warten.

In der Tat zeichnete sich Ende der 70er Jahre ein starker Rückgang ab: Kirchenaustritte, Priestermangel, Abschmelzen des katholischen Milieus, Verlust des Einflusses in der Öffentlichkeit. Viele die schon zu Beginn nur halbherzig hinter dem Konzil standen, gaben nun diesem die Schuld. Ein zweiter Grund war, dass die theologische Nacharbeit nach dem Konzil weitgehend ausgeblieben war und auch durch die römischen Bischofssynoden nicht geleistet wurde. Lehramtliche Schreiben, in den letzten Jahren überaus zahlreich tragen oft einen defensiven Charakter, anstatt neue Horizonte zu öffnen. Alles in allem ist die Kirche in eine Angstsituation geraten, nicht zuletzt, weil sie ihre neue Position in der nun pluralistischeren Gesellschaft noch nicht gefunden hat.

Der Heilige Geist könne als Hauptakteur des Konzils betrachtet werden, sagte Benedikt XVI jüngst in einem Rückblick und rief am Jahrestag des Konzilsbeginns das Jahr des Glaubens aus. Die „leichte Brise“ des Geistes, die Papst Johannes XXIII vor der Eröffnung diese „großen Ereignisses“ gespürt habe, sei zu einem Feuersturm geworden, was viele nicht mehr so empfunden. 50 Jahre nach dem Konzil ist ein neuer Reformstau entstanden. Noch ist es zu früh für ein drittes Vaticanum. Vielleicht muss manches noch mehr reifen, vielleicht auch der Leidensdruck da und dort noch größer werden. Sie und ich, wir alle sind berufen und aufgefordert, Geist und Botschaft des Konzils weiterzutragen und seine Anstöße immer wieder neu zu entdecken.

Das Christentum ist eine froh machende Botschaft; Freiheit des Geistes, Offenheit, Dialog und Barmherzigkeit sind seine Kennzeichen. Angst ist dagegen immer ein schlechter Ratgeber – erst recht in der Kirche Jesu Christi, damit auch für uns hier in der Ackermann-Gemeinde.“

Msgr. Dieter Olbrich

Der Petersdom: Ort des II. Vatikanums