Rückkehr nach Europa

"Die neue tschechische Regierung wird sicher weniger sozial als die alte. Aber mit ihr bekommt Europa wieder einen gestaltenden Partner, gerade pünktlich zur EU-Ratspräsidentschaft." So lautet die Einschätzung des Journalisten Steffen Neumann in seinem Beitrag "Zur Diskussion".

 

Es war einer seiner letzten Termine als Kulturminister. Am 17. November eröffnete Lubomír Zaorálek in Aussig/Ústí nad Labem die Dauerausstellung über die Geschichte und Kultur der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien, kurz „Unsere Deutschen/Naši Němci“. Zu diesem Zeitpunkt war Zaorálek bereits Minister in Demission. In wenigen Tagen wird eine neue Regierung antreten und dann ist ein sozialdemokratischer Minister erst einmal Geschichte. Zaorálek stand 25 Jahre in vorderster Reihe und wie kein anderer für Erfolg und Misserfolg der ältesten Partei Tschechiens. Er zog 1996 ins Parlament ein und muss es nun nach dem historischen Wahldebakel verlassen.

Mit der ČSSD scheiterten auch die Kommunisten an der 5-Prozent-Hürde. Für einen Teil der tschechischen Gesellschaft ist das eine Genugtuung, dass diese über 30 Jahre nicht mehr im Parlament vertreten sein wird. Zuletzt wurden sie aufgrund ihrer Tolerierung der Regierung von Andrej Babiš sogar aufgewertet. Es gibt aber auch Befürchtungen, dass die Abwesenheit dezidiert linker Parteien im Parlament zu einer weniger sozialen und vor allem nationalen Politik führen könnte. Zwar hatte ANO in den letzten Jahren zunehmend soziale Positionen übernommen. Aber das dürfte rein pragmatisch zur Sicherung von Wählern geschehen sein. Allerdings wurde die tschechische Politik die vergangenen 23 Jahre mehrheitlich sozialdemokratisch bestimmt. Es ist nicht zu erwarten, dass es die neue Regierung schafft, diese Politik mit einem Mal beiseite zu wischen. Viel wichtiger für die Zukunft wird sein, wie und ob sich die Sozialdemokratie neu aufstellt.

Der Absturz der Sozialdemokratie war absehbar. Der Sieg des Anti-Babiš-Bündnisses aus den beiden Blöcken Spolu und Piraten/Bürgermeister war dagegen eine Überraschung, erst recht, dass Spolu aus den konservativen Parteien ODS, TOP09 und KDU-ČSL am Ende noch vor ANO die Wahlen gewann. Lange hatte es so ausgesehen, dass ANO wieder vorn liegen würde und lediglich daran scheitern könnte, dass ihr die Koalitionspartner abhanden kommen. Doch die Niederlage war am Ende so eindeutig, dass Babiš selbst auf die von Präsident Miloš Zeman angebotenen Machtspielchen verzichtete und das Angebot ablehnte, mit der Regierungsbildung betraut zu werden. Selbst mit den Rechtspopulisten der Okamura-Partei hätte es nicht zu einer eigenen Mehrheit gereicht. Und der Plan, einzelne Partner aus den Oppositionsblöcken herauszulösen und für einen Eintritt in eine von Andrej Babiš geführte Regierung zu gewinnen, wurde aufgegeben, noch bevor er angegangen wurde.

Die Geschlossenheit der Bündnisse Spolu und Piraten/Bürgermeister ist ihr größter Trumpf und sicher einer der Gründe für ihren Sieg. Ein zweiter ist ein schwerer strategischer Fehler der sonst so reibungslos funktionierenden Marketingmaschinerie von ANO. Nachdem sich mit Miroslav Kalousek der Lieblingsfeind von Andrej Babiš aus TOP09 zurückgezogen hatte, fanden die Marketingstrategen von Babiš in den Piraten eine neue Hauptzielscheibe. Das funktionierte fast schon zu gut. Die Piraten wurden in den Wahlen abgestraft, ohne je an einer Regierung beteiligt gewesen zu sein. Unter diesem Radar konnte Spolu ungestört in den Umfragen wachsen und am Ende sogar Wahlsieger zu werden. Der ruhige Stil des designierten Premierministers Petr Fiala, den Babiš als langweilig verunglimpfte, kam wider Erwarten an. Der dritte Grund für den Regierungswechsel ist wohl in einer allgemeinen Unzufriedenheit zu suchen, der sich vor allem in den Ergebnissen von Sozialdemokraten und Kommunisten widerspiegelte, aber dem sich auch ANO nicht entziehen konnte.

Erst das Zusammenspiel all dieser Faktoren sorgte dafür, dass sich fast in Rekordzeit eine Regierung aus fünf Parteien bilden konnte. In Tschechien gab es seit 1993 maximal 3-Parteien-Koalitionen. Zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe war nur noch offen, ob Zeman alle Minister und Ministerinnen der neuen Regierung akzeptiert und ernennt. Sollte das auch noch passieren, hätte Tschechien früher als Deutschland eine neue Regierung, obwohl in Tschechien drei Wochen später gewählt wurde.

Auch wenn anfangs nicht wenige einer 5-Parteien-Koalition kein langes Leben vorausgesagt hatten, im Moment sieht es so aus, dass diese Konstellation gute Chancen hat, die kompletten vier Jahre durchzuhalten. Es macht sich bezahlt, dass die Bündnisse im zuvor so zersplitterten Mitte-Rechts-Spektrum mit Umsicht geschmiedet wurden. Niemand hatte sich das Zusammengehen leicht gemacht. Aber diese Bündnisse eröffneten allen Parteien erst eine Machtoption. Gerade kleinere Parteien wie die Christdemokraten (KDU-ČSL), die TOP09 und erst recht die Bürgermeister (STAN) sind stärker als zuvor im Parlament vertreten. Wie fest die Bündnisse untereinander und miteinander sind, zeigte sich auch im Prozess der Koalitionsbildung. Nicht einmal das fatale Wahlergebnis der Piraten sorgte ernsthaft für Verstimmung. Während bei Spolu alle Einzelparteien auf der Basis eines ausgehandelten Proporzes gewannen, holten die Bürgermeister auf Kosten der Piraten fast alle Mandate des Bündnisses. Für die Piraten, die allein sicher mehr Mandate geholt hätten, fühlte sich der Wahlsieg wie eine Niederlage an. Aber mit der Aussicht, die kommenden vier Jahre die Politik mitbestimmen zu können, lassen sich solche Verstimmungen leichter besänftigen.

Die Ausrichtung der neuen Regierung vereint, wie nicht anders zu erwarten, klassisch konservativ-liberale Ziele: eine ausgeglichene Haushaltspolitik, die Westanbindung der Außenpolitik, aber auch mehr Ausgaben für Kultur, Digitalisierung und den Umweltschutz. Bei den letzten drei Themen dringt die Handschrift des Bündnisses Piraten/Bürgermeister durch. Ähnlich wie die deutsche Ampelkoalition setzt die tschechische Regierung künftig auch auf mehr Freiheit und Eigenverantwortung. Nicht enthalten im Koalitionsvertrag sind ein Datum für die Euro-Einführung, eine Absage an die Atomenergie oder eine Änderung der Migrationspolitik. Beim Euro ist die stärkste und traditionell euroskeptische Partei, die ODS. Das Festhalten an der Atomenergie und sogar ihr weiterer Ausbau ist Konsens über alle Lager in der tschechischen Politik.

Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass mit der neuen Regierung Bewegung in die Themen Euro und Migration kommt. Wie bereits einige Vertreter der neuen Koalition andeuteten, hat für sie das Bündnis der Visegrád-Staaten nicht mehr die große Bedeutung. Dessen breitester gemeinsamer Nenner war gerade die Ablehnung verbindlicher Quoten zur Aufnahme von Flüchtlingen. Doch sind die Differenzen vor allem zu Polen vor dem Hintergrund des Streits um den Kohletagebau Turów inzwischen zu groß.

Tschechien möchte offenbar, gemeinsam mit der Slowakei, eigene Wege gehen. Außerdem wird ein Pirat nächster Außenminister. Im Moment soll dies Jan Lipavský werden und es spricht einiges dafür, dass er auch gegen den Willen Präsident Zemans ernannt wird. Die Piraten haben ein aufgeschlosseneres Verhältnis zu einer aktiven Migrationspolitik als der Rest der politischen Szene in Tschechien. Schlussendlich trifft selbst für die ODS das Attribut „euroskeptisch“ nicht vollends zu. Immer wieder hatte die ODS auch Zeiten, in denen sie durchaus europafreundlich war. Das hängt auch davon ab, welche Personen in der Partei gerade das Sagen haben, und die Riege um Fiala ist eindeutig weniger skeptisch. Im Gegenteil, Petr Fiala wird in gut einem halben Jahr für sechs Monate den Vorsitz der Europäischen Union übernehmen. Es ist abzuwarten, welches Thema dann gerade Europa bewegen wird. Auch Corona wird im nächsten Herbst vermutlich wieder alles überlagern. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass sich ausgerechnet unter dem Vorsitz Tschechiens auch etwas in der Migrationspolitik bewegt.

So oder so bekommt Deutschland mit der neuen tschechischen Regierung einen kooperativeren Partner als bisher. Nicht zuletzt gehört eine Erneuerung der politischen Kultur im Geiste Václav Havels zu einem der Hauptziele der angehenden Regierung. Das passt zu dem in Kürze anstehenden 25-jährigen Jubiläum der deutsch-tschechischen Erklärung. Meinungsverschiedenheiten wird es zwischen Deutschland und Tschechien auch in Zukunft geben. Aber der Anspruch, in Europa zu gestalten, wird von der neuen Fiala-Regierung weitaus höher sein, als bisher.

Steffen Neumann

 

Ausgezeichneter Journalismus

Steffen Neumann ist Journalist und bewegt sich regelmäßig zwischen Dresden, Prag und dem tschechisch-deutschen Grenzgebiet. Er berichtet für die Sächsische Zeitung aus dem Nachbarland und ist in Prag Chefredakteur des Landesechos, der Zeitschrift der Deutschen in der Tschechischen Republik. Im November wurde er in Brünn/Brno für seine langjährige herausragende journalistische Tätigkeit mit dem deutsch-tschechischen Journalistenpreis 2021 ausgezeichnet. Herzlichen Glückwunsch!