Kulturminister Herman bei Sudetendeutschen Tag

Es war eine bedeutende Rede und ein bewegender Moment. Als erster Minster einer tschechischen Regierung besuchte Kulturminister Daniel Herman, zugleich Vorsitzender der Sdružení Ackermann-Gemeinde, den Sudetendeutschen Tag in Nürnberg. Wir dokumentieren hier die Rede von Kulturminister Daniel Herman am 1Pfingstsonntag in Nürnberg bei der Hauptkundgebung:

"Liebe Landsleute.

Es ist für mich eine Ehre als erstes Regierungsmitglied der Tschechischen Republik sie bei ihrem alljährlichen Treffen begrüßen zu dürfen.

In diesem Jahr sind bereits 70 Jahre vergangen, seit der Zeit, in der Ihre Eltern, Großeltern und noch viele von Ihnen gezwungenermaßen ihre Heimat verlassen mussten, in der unsere Vorfahren über Jahrhunderte gemeinsam ihre Wurzeln hatten.

Tschechen, Deutsche, Juden, Polen, Roma und Angehörige anderer Völker haben Seite an Seite die Identität Böhmens, Mährens und Schlesiens gebildet, dort, wo viele von Ihnen ihr Zuhause hatten.

Die tragischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts haben diese Bindungen verletzt, zerrissen und einige definitiv zerstört.

Die jüdische und die Roma Gemeinschaft wurden in der Zeit des nationalsozialistischen Terrors fast gänzlich vernichtet. Die  Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen wurden durch die Verbrechen der Nationalsozialisten, die das deutsche Volk über das tschechische Volk stellten, ruiniert.

Damit jedoch nicht genug. Denn gegen Kriegsende nahm die Begierde nach Rache und Vergeltung für dieses Genozid die grauenvolle Gestalt von Verbrechen eines Teils der tschechischen Bevölkerung gegen die deutschsprechenden Mitbürger an und dies auch noch mehrere Monate nach Unterzeichnung internationaler Abkommen, die das Kriegsleid beenden sollten.

Wie ist es überhaupt möglich, dass so viel Leid geschehen konnte? Nach welchen Regeln und Prinzipien war es möglich, dass die kulturelle und gesellschaftliche Szene derartige Taten, für die wir uns heute noch schämen, tolerierte? Und können wir uns dessen sicher sein, dass solche menschenverachtenden Ideen heute nicht mehr lebendig sind?

Ich bin davon überzeugt, dass solange wir versuchen zu verstehen, solange wir Scham empfinden können und solange es jemanden gibt, an den wir Worte mit der Bitte um Vergebung richten können, die Hoffnung besteht, dass die Wunden der Vergangenheit zumindest teilweise verheilen. Und dass wir an das anknüpfen können, was die Beziehungen zwischen unseren Ländern verstärkt, dass wir nämlich Menschen sind, die geschaffen wurden, um mit anderen Beziehungen in gegenseitiger Achtung und im gegenseitigen Vertrauen aufzubauen.

Das gefährliche Prinzip, das diese furchtbaren Taten ermöglichte, wurde auf der Fiktion der Kollektivschuld auf Basis der ethnischen Herkunft aufgebaut. Nur so konnte Tausenden Menschen ihre Bürger- und Menschenrechte, ihr Eigentum, ihre Ehre und in vielen Fällen auch ihr Leben genommen werden. Und das sogar ohne Rücksicht darauf, ob sie sich mit ihrer persönlichen Haltung für oder gegen die Okkupation durch Hitler eingesetzt haben.   

Dieses gefährliche Prinzip ist aus Hass entstanden. Es ist aus dem Versuch  entstanden, sich aus der Verantwortung für das Werk unserer Väter herauszulügen, die stets um ein friedliches Zusammenleben bemüht waren. Dieses Prinzip wurde durch die Überzeugung verstärkt, dass man den freien Menschen auf seine Ethnizität oder auf eine Rasse reduzieren kann.

Deshalb müssen wir jedes Mal auf der Hut sein, wenn einem Menschen die Möglichkeit der freien Wahl entzogen wird und er automatisch irgendeiner Gruppe zugeordnet wird.    

Ich möchte mich deshalb an dieser Stelle als Politiker den Worten des  Bedauerns anschließen, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahre 1990 von unserem damaligen Präsidenten Václav Havel ausgesprochen wurden. Havel sagte damals, dass die Vertreibung der Deutschen aus den böhmischen Ländern eine unmoralische Tat gewesen sei, die nicht durch das Verlangen nach Gerechtigkeit, sondern durch den Drang nach Rache geleitet wurde.

Auf ähnliche Weise wurde auch die Entschuldigungsgeste des ehemaligen tschechischen Premiers Jiří Paroubek gegenüber den sudetendeutschen Antifaschisten zum Ausdruck gebracht, die doppelt leiden mussten: zuerst unter Hitlers Regime, in dem sie für ihre politische Überzeugung verfolgt wurden und schließlich nach Kriegsende für ihre ethnische Herkunft.

Im Jahre 2013 sprach in München Tschechiens Premier Petr Nečas vor dem bayerischen Landtag. In seiner Rede drückte er sein Bedauern über die Vertreibung der Nachkriegszeit und die Aussiedlung der Sudetendeutschen aus der  damaligen Tschechoslowakei aus. Er zeigte dabei, wie sehr wir uns für das Verständnis der eigenen Identität  gegenseitig brauchen. Kurz: ohne den einen kommt der andere nicht aus.

Heute sind fast  zwanzig Jahre vergangen seit der Unterzeichnung der Deutsch-tschechischen Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung. Der Bundeskanzler Helmut Kohl und Ministerpräsident Václav Klaus haben am 27. Januar 1997 gemeinsam erklärt, dass beide  Seiten sich ihrer Verpflichtung und Verantwortung bewusst sind, die deutsch-tschechschen Beziehungen im  Geiste guter Nachbarschaft und Partnerschaft weiter zu entwickeln und damit zur Gestaltung des zusammenwachsenden Europas beizutragen.

Heute, ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs, der Europa vom Baltikum bis zur Adria teilte, kann ich als tschechischer Politiker vor Ihnen stehen, des Landes also, das einst unser gemeinsame Heimat gewesen ist und Sie als liebe Landsleute ansprechen.

Für mich persönlich ist dies ein besonderer Moment. Ich stamme nämlich einer Familie ab, die von den grauenhaften Geschehnissen des 20. Jahrhunderts stark getroffen wurde. Einige meiner Verwandten haben die sogenannte „Endlösung“ der Judenfrage nicht überlebt. Diejenigen, die wie durch ein Wunder überlebten, wurden durch eine neue, diesmal rote Diktatur stark getroffen.

Auf der Grundlage meiner eigenen Erfahrungen und der meiner Familie weiß ich nur allzu gut, dass man Menschen nicht einfach auf ihre politischen, ethnischen, oder religiösen Zugehörigkeiten reduzieren kann. Es  gibt weder „die Deutschen“ noch „die Tschechen“. Es sind konkrete Menschen mit eigener Verantwortung, die sich für ihr Leben und ihre Taten rechtfertigen müssen.  

Meine Heimatstadt ist die südböhmische Metropole Budweis. Ich wurde dort 1963 geboren. Sicherlich stammen auch einige von Ihnen von dort. Gerade Sie möchte ich hier ganz besonders grüßen.

Meine Kindheit und Jugend verbrachte ich im Böhmerwald in einem ehemaligen Holzhauerdorf Namens Guthausen, das zwischen dem Tussetberg und dem Berg Kubani liegt. Dort haben meine Eltern 1965 ein verlassenes Haus gekauft. Das Haus war, wie man früher sagte, ein  „Überbleibsel der Deutschen“. Und genau in diesem Dorf, das vor 200 Jahren von Holzfällern aus dem benachbarten Bayern und Österreich auf dem Anwesen der Krumauer Schwarzenbergs gegründet wurde, habe ich zum ersten Mal die Spuren des deutsch-tschechischen Zusammenlebens in den böhmischen Ländern mit all ihren Licht- und Schattenseiten verfolgen können. Wie viele verlassene Bauten und Ruinen habe ich entdeckt. Und wie viele verlassene Gärten mit alten Bäumen, die mit ihren vertrockneten, durchwachsenen Ästen ein Fragezeichen in den Himmel zu schreiben schienen mit der Frage: „Warum?“

An der Quelle, die bei der Tussetkapelle entspringt und an dem Friedhof der Gemeinde Böhmisch Röhren habe ich teilweise Antworten finden können. Gerade hier habe ich die Möglichkeit gehabt, zahlreichen Böhmerwäldlern zu begegnen, mit denen ich viel gesprochen habe. Gesprochen haben wir über die Zeit vor, während und nach dem Krieg. Und ich hatte die einmalige  Gelegenheit ihre Geschichten zu hören.

Unter ihnen war auch die Schriftstellerin Rosa Tahedl, deren Bücher ich alle gelesen habe und mit der ich oft diskutieren durfte.

Ich wusste nur zu genau, dass diese  Kontakte mit den so genannten „westdeutschen Revanchisten“ von den kommunistischen Organen sehr genau beobachtet wurden. Jedoch hat mein Wissensdurst danach zu Verstehen wie die historischen Erschütterungen, die Mitteleuropa überrollten, die Lebensschicksale der hiesigen Menschen erschüttert haben,  meine Angst vor Verfolgung besiegt.

Damit hatte ich die Möglichkeit an ihrem Leiden, aber auch an ihrer Hoffnung auf Versöhnung teilzuhaben. Auch aus diesem Grund bin ich Mitglied der Bürgervereinigung Sdružení Ackermann Gemeinde geworden und bin  bereits  zum zweiten Mal ihr Vorsitzender in Tschechien.

Jetzt werden Sie vielleicht besser verstehen, warum ich als Mitglied der Tschechischen Regierung heute hier vor ihnen stehe.

Ich nehme die Worte des Bedauerns über Verbrechen an, die von einigen ihrer Vorfahren verübt wurden. Zugleich bedauere ich zutiefst, was vor sieben Jahrzehnten von einigen unserer Vorfahren begangen wurde und das dadurch unser jahrhundertelanges Zusammenleben verletzt wurde.

Wir sind uns durchaus der einmaligen historischen Gelegenheit bewusst, nämlich der Möglichkeit in die verlassenen Gärten und Friedhöfe zurückzukehren und gemeinsam die Obstbäume und verlassenen Gräber zu versorgen. Wir können nun  gemeinsam aus den alten Baumkronen die vertrockneten Äste, die Fragezeichen in den Himmel zeichnen, beseitigen und dafür sorgen, dass die Bäume wieder Früchte tragen können.

Ich möchte diese Gelegenheit auch nutzen, um Ihnen für die Erneuerung und Instandhaltung unseres gemeinsamen Kulturerbes in Böhmen, Mähren und Österreichisch Schlesien zu danken. Ohne Ihre Hilfe würden heute wahrscheinlich viele Kirchen, Kapellen und Friedhöfe gar nicht mehr existieren. Ein großes Vergelt´s Gott dafür!

Ich danke ihnen auch für den positiven Beitrag, den sie als Brückenbauer zwischen unseren beiden Völkern bei der Belebung und Verbesserung der tschechisch-bayerischen Beziehungen geleistet haben und immer noch leisten. 

Viele von Ihnen haben seit der Wende, und zum Teil schon zuvor, aktiv dazu beigetragen, dass die Trennung zwischen unseren Völkern überwunden wird und ein neues Miteinander entsteht. An vielen Orten ist Vertrauen gewachsen, sind Freundschaften entstanden. Staatliche und kirchliche Ehrungen sowie Ehrenbürgerschaften in Städten und Gemeinden für viele aus Ihren Reihen zeigen, dass Sie bei uns willkommen sind und wir uns mit ihnen verbunden fühlen.

Wir leben in einem gemeinsamen Europäischen Haus, das wir auf den Prinzipien der Verantwortung und Freiheit des Einzelnen zu erbauen versuchen, aber auch auf der Überzeugung, dass lediglich die Versöhnung einen festen Grundstein für unsere gemeinsame Zusammenarbeit legen kann.

Wir sind uns durchaus der Gefahren bewusst, die heutzutage auf uns lauern.  An der Schwelle Europas stehen nicht  nur unglückliche Menschen, die auf unsere Hilfe hoffen, sondern auch solche, die unsere gemeinsamen Werte nicht teilen und unsere Art in Freiheit zu leben bedrohen wollen. Es ist eine Zukunftsangst in unsere Gesellschaft eingekehrt. In unseren Straßen und Medien können wir auch immer öfter Worte des Hasses hören.

Wir dürfen jedoch unsere Chance nicht vergeuden. Wir müssen versuchen, stetig an unserem gemeinsamen Europäischen Haus weiterzubauen, das uns unsere Vorfahren überlassen haben und wir müssen bereit sein, es gegen jeden zu verteidigen, der versucht erneut Hass und Angst zu säen.

Das Vermächtnis unseres gemeinsamen Königs und Kaisers Karls IV., dessen 700. Jubiläums wir gestern gedachten, verpflichtet uns hierzu.  

Möge uns Gott in diesem Bestreben helfen."

 

Rede Daniel Herman 15.5.2016 (deutsch)

projev Daniela Hermana 15.5.2016 (česky)

Daniel Herman bei seiner Rede. (Foto: D. Macek, Facebook)