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„Georgiens Zivilgesellschaft bleibt aktiv“

Themen-Zoom der Ackermann-Gemeinde zur aktuellen Lage in Georgien

Den Blick nach Georgien richtete der jüngste Themen-Zoom der Ackermann-Gemeinde Anfang Juni, den an 36 PCs mit natürlich weit mehr Interessenten verfolgten. Zum Thema „Georgiens anhaltender Kampf um demokratische Selbstbestimmung“ referierte Prof. Dr. Ketevan Gurchiani und beantwortete danach die Fragen der Zuhörerinnen und Zuhörer.

In seiner Einführung merkte Moderator Rainer Karlitschek an, dass bei den seit 2020 angebotenen Zoom-Veranstaltungen immer auch die Transformationsprozesse in Ländern Mittel- und Osteuropas thematisiert wurden. Nun sei es also – auch angesichts der jüngsten Vorkommnisse – Zeit geworden, sich mit Georgien zu beschäftigen. Als Expertin habe Prof. Dr. Ketevan Gurchiani gewonnen werden können, die live aus Tiflis zugeschaltet war. 

Sie ist Professorin für Anthropologie und Leiterin des Forschungszentrums für Anthropologie an der Ilia State University in Tiflis. Zu ihren Hauptforschungsgebieten gehören die Stadtanthropologie mit Schwerpunkt auf der städtischen Natur und die Untersuchung der Alltagsreligion. Außerdem forscht sie zu Themen wie Migration und Friedenspraktiken. Sie war Vize-Kanzlerin der Ilia State University und war mit an der Gründung der Bewegung „Georgian Education in Danger“ beteiligt. Derzeit ist sie Kooperationspartnerin z.B. für das Projekt „Remembrance of Soviet Repressions in Post-Soviet Spaces“. Sie war in vielen Ländern tätig, in Deutschland unter anderem in Freiburg.

Mit dem stark umstrittenen Gesetz gegen „ausländische Einflussnahme“ und der Partei „Georgischer Traum“ sei Georgien im vergangenen Jahr auch in Deutschland in den Fokus gerückt. Diese einleitenden Aspekte Karlitscheks nahm Gurchiani auf und konkretisierte, dass die Proteste in Georgien bis heute anhalten – ununterbrochen seit 188 Tagen. Jeden Tag fänden, so die Referentin, „Märsche für Demokratie und Gerechtigkeit“ statt. Die Forderungen: Neuwahlen, Gerechtigkeit, freie Medien, soziale und geschlechtliche Gleichstellung, Aufklärung von Gewalt, Freilassung von Gefangenen. Vor allem junge Leute und oppositionelle Politiker seien inhaftiert. Darüber hinaus fänden jeden Donnerstag Demonstrationen vor dem Obersten Gerichtshof statt. Daran nähmen Professoren, Kulturschaffende, Studenten und Familien teil, inhaltlich gehe es hier besonders um die Kritik am Justizsystem.

Kurz blickte die Referentin auf die jüngste Vergangenheit zurück. Auslöser für die Demos sei im Frühjahr 2023 das damals eingebrachte „Agentengesetz“ gewesen. Massenproteste hätten zunächst zur Rücknahme dieses Gesetzes geführt, ein weiterer Erfolg sei zudem der EU-Kandidatenstatus gewesen – auch ein Zeichen für eine starke Zivilgesellschaft in Georgien. Doch im März 2024 sei das Gesetz erneut eingebracht worden, was erneute Protestmärsche und Demonstrationen nach sich zog. Es habe Angriffe auf unterstützende Institutionen gegeben, betroffen seien auch Universitäten gewesen. Damit habe eine Gefahr für die Bildung und die akademische Freiheit bestanden, bemerkte Gurchiani. Als „erste große Niederlage“ bewertete sie die Verabschiedung des Gesetzes im Mai 2024 – trotz des großen Widerstandes. Für diese Zeit sprach sie zudem von der „Wahrnehmung eines grundlegenden Wandels im Land“, da danach Klagen abgewiesen wurden. Mit den im Herbst 2024 anberaumten Parlamentswahlen habe man vielfach große Erwartungen an einen demokratischen Wandel geknüpft – auch angesichts neuer Bewegungen und von Wahlbeobachtern. Die Realität habe jedoch anders ausgesehen: durch Wahlfälschungen habe der „Georgische Traum“ 55 Prozent erhalten – auch durch Einschüchterungen, Bestechung und Verletzung des Wahlgeheimnisses. Letztlich erfolglos seien Maßnahmen wie Aufklärungskampagnen in Bussen oder Lesungen über Wahlbetrug gewesen. Am 28. November habe Ministerpräsident Irakli Kobachidse die Beendigung aller Gespräche mit der Europäischen Union verkündet, was erneut Massenproteste nach sich zog. Die Referentin beschrieb die Lage damals als ein „Gefühl des landesweiten Betrugs“, zumal Europa auch als ein Identitätsanker („Westbindung als zivilisatorische Wahl“) gesehen wurde. Außerdem spielten historische Traumata (z.B. russische Besatzung 1801, Verlust der Unabhängigkeit) eine nicht unerhebliche Rolle. Die aktuellen Proteste bewertete Gurchiani als „Ausdruck tiefer gesellschaftlicher Werte und starkes Gefühl der Einheit“. Im Zentrum stehe der Kampf um Demokratie, Identität und europäische Zugehörigkeit. „Georgiens Zivilgesellschaft bleibt aktiv“, fasste die Referentin optimistisch zusammen.

Nach der aktuellen parlamentarischen Situation befragt, erklärte Gurchiani, dass derzeit die Vertreter der Partei „Georgischer Traum“ alleine im Parlament säßen. Die Opposition habe das Wahlergebnis nicht akzeptiert und boykottiere daher das Parlament. Neuwahlen seien vorgeschlagen worden, doch die faktisch herrschende Regierung stehe dem entgegen. Die nun nach einer Verfassungsänderung vom Parlament erfolgte Wahl des Staatspräsidenten sei ebenfalls in diesem Kontext zu sehen. Dadurch sei die bisherige vom Volk gewählte Präsidentin Salome Surabischwili durch den neuen Präsidenten Micheil Kawelaschwili, einen ehemaligen Fußballspieler ersetzt worden. Gesetze anderer illiberaler Staaten würden als Vorbild gesehen werden. Seitens der Opposition gebe es zwar eine Koalition bzw. Versammlung, wo man sich auf bestimmte Schritte einigt. Insgesamt sei diese aber eine „vielschichtige Gruppe“ ohne eine charismatische und alle verbindende Persönlichkeit. „Teile der Opposition sitzen im Gefängnis. Es bleibt zu hoffen, dass der Protest Wirkung zeigt. Eine gewisse Solidarität ist erreicht, erste Risse in der Regierung sind sichtbar“, erläuterte die Professorin. Sie verwies auch darauf, dass es Proteste auch in kleineren Städten und Dörfern gebe, „alle sprechen von Ungerechtigkeit. Man hat gesehen, dass der Staat sein Wort nicht hält – und man hat die Gewalt gesehen.“

Als Strippenzieher im Hintergrund nannte sie den Oligarchen Bidsina Iwanischwili, der gegen die EU sei, weil diese sein Geld eingefroren hat. Die Rolle der Kirche sei differenziert zu betrachten: einerseits habe sie den Demonstranten ihre Türen geöffnet, andererseits aber keine öffentlichen Äußerungen getan. Und bei Fragen wie LGBTQ stehe sie der Regierung nahe.

Weitere Diskussionsbeiträge hatten die Rolle der abtrünnigen Regionen (Abchasien und Südossetien), die Abwanderung der jungen Generation und die Erwartungen an die EU zum Inhalt. „Wir hoffen auf Sanktionen gegen Iwanischwili und andere Oligarchen – und die Unterstützung der Zivilgesellschaft durch die EU“, bilanzierte die Professorin und dankte abschließend für die Gelegenheit, dass sie die aktuelle Situation in ihrem Land darstellen konnte.

Markus Bauer

Moderator Rainer Karlitschek bei der Einführung in die Thematik.
Prof. Dr. Ketevan Gurchiani bei ihrem Vortrag
Prof. Dr. Ketevan Gurchiani