Gemeinsame Erfahrungen in europäische Integration einbringen

Mit dem „Ringen um den Sinn der europäischen Integration“ beschäftigten sich gut 200 Teilnehmer aus Deutschland, Tschechien, Österreich und der Slowakei am Palmsonntagwochenende in Brünn beim inzwischen 19. Brünner Symposium - Dialog in der Mitte Europas, das die Ackermann-Gemeinde zusammen mit der Bernard-Bolzano-Gesellschaft organisierte.

Brünns Primator Roman Onderka gratulierte zum Erfolg dieses langjährigen Symposiums und hoffte, „dass es nicht eine interne Diskussion bleibt, sondern die Diskussion uns alle ein Stück weiter bringt“. Der Vizehauptmann des Südmährischen Kreises Václav Božek rief die jüngste Wirtschaftskrise in Erinnerung und sah diese als Zeichen für das Ende einer Ära. Auf die guten deutsch-tschechischen Beziehungen verwies Johannes Haindl, Deutscher Botschafter in Prag, mahnte aber auch an, mit diesem gegenseitigen Interesse nicht nachzulassen. Angesichts des Lissabon-Vertrags appellierte er an Deutschland und Tschechien, „gemeinsam Ideen für die europäische Integration“ zu entwickeln. Prof. Tomáš Kosta vom Tschechischen Außenministerium stellte fest, dass die beiden Staaten seit 2004 in den bilateralen Beziehungen gut vorangekommen seien und riet zu Optimismus.

„Die Zeit der Ernte nähert sich“, stellte Senatsvizepräsident Dr. Petr Pithart, Vorsitzender der Bernard-Bolzano-Gesellschaft, angesichts der Tradition dieser Tagung fest. Positiv ist für ihn, dass nun auf beiden Seiten die Achtung vor den Opfern, die „Trauer über die Schicksale und über das, was zugelassen wurde“ möglich ist. Er ermunterte dazu, „die Tore des Dialogs für alle daran Interessierten zu öffnen“. Und an die Politiker gewandt meinte er: „Sie sollten auch die Angebote christlicher Versöhnung sehen“, zumal sich daraus auch eine neue gesellschaftliche und politische Ordnung entwickeln könnte.

Im Einführungsreferat „Die westliche Welt am Scheideweg. Was kann das Christentum einer säkularen Welt anbieten?“ erläuterte Staatsminister a.D. Prof. Dr. Hans Joachim Meyer zunächst die zentralen Begriffe des Themas. Die westliche Welt sieht er geprägt vom Christentum, das aber auch universalen Charakter hat. Beim Begriff „säkular“ betonte er für den Westen den Freiheitsaspekt, aber auch die Schwierigkeiten, welche die Kirche oft bis heute mit der „Freiheit“ hat. Freiheit habe sich in der Kirche vor allem im Einsatz für Benachteiligte ausgedrückt, machte Meyer deutlich. Als wichtigen Einschnitt sah Meyer die Anfänge der katholischen Soziallehre, die sich heute zur christlichen Sozialethik gewandelt hat, die dialogisch und offen ist. Meyer nannte Äußerungen der katholischen Kirche aus den letzten 20 Jahren, so die Kritik an globalen Tendenzen, für soziale Gerechtigkeit sowie gegen Kapitalismus und die Wettbewerbsgesellschaft. Meyer forderte, dass die Kirche auf dem Boden der Freiheit stehen müsse. Dies habe auch Papst Johannes Paul II. vielfachvertreten. Für Meyer gehört der christliche Glaube und damit Gerechtigkeit und Solidarität zu den handlungsleitenden Elementen in Europa. Daher lautet eine seiner Forderungen, „die christlichen Wurzeln in Europa zu nennen, aber für sich keinen Monopolanspruch zu stellen, sondern sich dem Streit mit anderen im Dialog zu stellen“.

„Was bringt uns die Erfahrung mit dem 20. Jahrhundert?“ war die Frage, der die Redner des von Jan Šícha moderierten Podiums am Samstagvormittag nachgingen. Den Input gab Prof. Dr. Jiří Hanuš, Historiker aus Brünn. Er verwies auf den anthropologischen Grundsatz, wonach Gott und die Menschen gut sind, es in der Welt aber destruktive und selbstzerstörerische Kräfte gebe. „Wie soll man das 20. Jahrhundert, seine Tendenzen, die moderne Welt bewerten?“, fragte Hanuš. In der modernen Welt gebe es hohe Ambivalenz, so etwa die Ablösung demokratischer Staatssysteme durch totalitäre oder umgekehrt. Die katholische Kirche ist für den Historiker auch in heutiger Zeit „keine Organisation wie jede andere“, sondern habe viel tiefere Grundlagen. Doch sie dürfe keine bestimmte Partei bevorzugen. Um Totalitarismen zu erkennen und sich dagegen zu wehren, riet er zu einem Konsens bei den Basiswerten der Demokratie und zur Fähigkeit, demokratisch denkende Menschen in einer Krisensituation zu einer Einheit zu bringen. Er brachte den Gedanken des Vergebens in Spiel, der aber auch missbraucht werden könne. Für Tschechien stellte er nach 40 Jahren Kommunismus eine weitgehende Beseitigung des liberal-konservativen Elements fest. Aber auch der politische Katholizismus (Volkspartei) ist laut Hanuš in eine schwierige Position geraten. „Das Christentum soll sich zu Europafragen äußern können“, forderte der Geschichtswissenschaftler. Bestimmte kirchliche Erfahrungen ließen sich in andere Bereiche übertragen, womit verlorenes Vertrauen in menschliche Organisationen vielleicht wieder geweckt werden könne.

Erfahrungen aus Polen schilderte der Lubliner Theologe und Publizist Dominikanerpater Tomasz Dostatni. Er rief eine Aussage von Papst Johannes Paul II. aus dem Jahr 1997 in Erinnerung, die Mauern in den menschlichen Herzen niederzureißen. „Die stille Koalition des Widerstands gegen das Böse ist am Ende. Politiker haben zwar auf alles eine Antwort, halten aber der Zeit nicht stand“, stellte der Pater fest. Hier falle den Christen - Menschen mit Gewissen, dauerhafter Hoffnung sowie lebendigem Bezug zu Gott - eine wichtige Rolle zu. Den von Christen geführten Dialog betonte auch Professor Meyer, wobei er den Mut nannte, „sich auf vertretbare Lösungen einzulassen, unsere Anliegen in die Gesellschaft zu tragen und das authentische Erbe des Zweiten Vatikanischen Konzils fortzuführen“. Jiří Hanuš meinte, dass das Wort Dialog seine Kraft verloren habe. „Wir kennen den Weg, aber nicht das Ziel“, warnte er und beschrieb das schwierige Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und der Volkspartei sowie zwischen der Kirche und den übrigen Parteien in Tschechien. „Die Menschen versuchen Christen zu bleiben, auch in den verschiedenen Parteien und Organisationen“, lautete Hanuš' Resümee.

Der Frage „Schafft die Krise eine Politik, die Vertrauen verdient?“ gingen, moderiertvon der Berliner Journalistin Dr. Anneke Hudalla, Kenner der Szenen in einigen europäischen Staaten nach. Für Tschechien stellte der Prager Politologe Dr. Petr Drulák fest, dass sichdie Wirtschaftskrise auf die Politik auswirke und (neo)liberale Parteien in Deutschland und Tschechien Zuwächse verzeichnen. „Die Krise könnte Anlass zur Reflexion bieten, das wurde aber nicht genützt, die Banken haben sich in ihrer Verhaltensweise nicht geändert, eine Vertrauenskrise ist immer noch da, keiner bietet eine vernünftige Alternative“, analysierte der Politologe, wobei er bei den Parteien in Tschechien keine Strömung sah, die gegensteuern könnte. Der Philosoph Dr. Martin Muránský aus Bratislava/Pressburg warf den Fokus auf die Slowakei. Während er allgemein die Wirtschaftskrise als überwunden sieht, ist für ihn die Finanzkrise immer noch im Laufen - nicht jedoch in der Slowakei, da hier die Banken einem „traditionllen Konservatismus“ verpflichtet sind. Die Lage in Polen schilderte der Berliner Politologe Dr. Kai-Olaf Lang. „Die Wirtschafts- und Finanzkrise brachte keine größeren innenpolitischen Verwerfungen, Polen kommt mit einem blauen Auge davon oder geht sogar gestärkt daraus hervor“, skizzierteLang die Situation dort und nannte positive Wachstumszahlen. Zudem habe die Regierung von Ministerpräsident Donald Tusk „keine ungewissen wirtschaftspolitischen Rezepte“ und wage keine Experimente. Dennoch stellte Lang für den mittel- und osteuropäischen Raum Manifestierungen von „postpopulistischen Parteien“ fest. Der in Wien tätige Korrespondent der Süddeutschen Zeitung Michael Frank blickte auf Österreich und Ungarn. Österreich habe 3,6 Prozent des Bruttosozialprodukts eingebüßt, jedoch auf einem hohen Niveau, daÖsterreich zuvor Deutschland in mehreren Bereichen überflügelt hat. Die in der Alpenrepublik agierenden populistischen Strömungen charakterisierte Frank als „Appell an viele Modernsierungsverlierer“, ferner sprach der Journalist von Politikerverdrossenheit, nicht von einer Politik- und Staatsverdrossenheit. Dagegen konstatierte er eine „prekäre Situation“ in Ungarn, das er als „Verlierer der Krise“ beschrieb. Hier sei, so Frank, kein politischer Konsens entstanden, verbindend sei vor allem die „weihevolle Haltung gegenüber dem Ungarntum“. Für Frank hat die Krise in Ungarn die Entstehung einer neuen rechtspopulistischen Partei gefördert, sodass künftig die bisherige national-konservative Partei mit dieser koalieren wird. Angesichts dieser Tendenzen forderte Frank einen stärkeren Einsatz der EU für Minderheitenfragen und das Volksgruppenrecht.

Ein Sozial- und ein Christdemokrat, nämlich der tschechische Ministerpräsident von 2002 bis 2004 Dr. Vladimir Špidla und der Gründungsvorsitzende der CDU-Wertekommission Dr. Christoph Böhr, tauschten in dem von Dr. Kai-Olaf Lang moderierten Podium zur Thematik „Wer gibt Antworten auf das Versagen des Neoliberalismus“ ihre Erfahrungen aus. Von einer „Oligarchisierung der Gesellschaft zu Lasten der Demokratie“ und von einer „Systemähnlichkeit zu den Finanzstrukturen im kommunsistischen System“ sprach Špidla. „Unser System befindet sich in der Krise, das neoliberale Denken steht am Ende der Kapazität und unsere Instrumente haben nur eine eingeschränkte Wirkung“, nannte der Ex-Regierungschef Gründe für die momentane Lage. Für ihn hat sich aber Europa im bewährt, „ohne das integrierte Europa wären die Folgen der Krise größer, die Fluktuation höher gewesen“. Für die Zukunft schlug er vor, bei allen wirtschaftlichen Entscheidungen auch die sozialen und ökologischen Aspekte zu bedenken. „Sinnvoll ist es immer, in eine politische Ökonomie liberale Elemente einzubringen - wenn es den Menschen nutzt“, war Böhrs Prämisse. Für ihn hat die Finanzkrise jedoch Mechanismen offenbart, die den Menschen völlig aus den Augen geglitten sind. Ausgehend von der Prämisse, dass die Rechtsordnung der Wirtschaftsordnung übergeordnet sein soll, ist die Wirtschaftskrise für Böhr „eine in weiten Teilen von der Politik verantwortete Krise, weil keine Regeln erlassen wurden“. Wichtig ist für den CDU-Politiker die Zielbestimmung der politischen Ökonomie auf der Basis der sozialen Marktwirtschaft mit dem Ziel des Wohlstands für alle. In der globalen Welt soll es für Böhr unmöglich sein, dass sich einzelne Inseln abschotten. Es müssten daher neue Regeln aufgestellt und vor allem vom Menschen her gedacht werden.

Den Abschluss des Symposiums bildete das von dem Posener Journalisten Przemyslaw Konopka geleitete Podium zur Frage „Einig über den Sinn der europäischen Integration?“ In seinem Inputreferat zeichnete der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments Dr. Klaus Hänsch die Etappen der europäischen Einigung nach. Als durchgängige Aspekte nannte er die Verständigung und Versöhnung, die Demokratie sowie die Freiheit in und unter den Staaten. „Die politische Einheit ist nur teilweise gelungen“, bilanziert Hänsch,  würdigte aber die heutige durchaus herterogene und kompliziertere Europäische Union der 27 Staaten: „Europa hat zu sich selbst zurückgefunden“. Besonders betonte er deren unterschiedlichen Erfahrungen. Es gehe jetzt darum, „die gemeinsamen Erinnerungen für die Zukunft zu transferieren, jede Diskriminierung aufzuheben“, so der frühere Präsident. Nichts könne die EU aber in Sachen Minderheiten- und Volksgruppenrechte tun, da die Situationen zu verschieden sind. „Der Sinn der europäischen Integration heute ist es, die Völker zu einigen, nicht zu einem europäischen Volk zu verschmelzen“. Dabei spielen für Hänsch auch die Nationalstaaten eine wichtige Rolle, etwa in den Bereichen Soziales und Kultur. Zudem ist die Selbstbehauptung Europas in der Welt für Hänsch eine bedeutende Aufgabe. r den Bundesvorsitzenden der Ackermann-Gemeinde MdEP Martin Kastler sinddie Aspekte Friede, Sicherheit und Ordnung wesentliche Elemente der europäischen Integration. Für den Europapolitiker muss die Integration primär für die Menschen positiv sein (Integration der Bürger in die Entwicklungsprozesse etwa in Form europäischer Bürgerinitiativen), die Völker müssen ohne Aufgabe ihrer Identitäten zusammenleben können (Europa als „Vaterland der Vaterländer“ in Einheit und Vielfalt) und das geistige Wertesystem für Europa (christliches Fundament) soll respektiert und weiterentwickelt werden. Kastler favorisiert eine Integration, „die die Grundwerte Europas betont, die Eigenständigkeit achtet und die Bürger mehr einbringt“. Der Prager Abgeordnete Ondřej Liška kritisierte an der tschechischen (Europa)Politik, dass sie „uneins und nicht fähig (sei), über unsere Vergangenheit zu diskutieren. Die tschechische Politik ist tief gespalten bei der Frage, inwieweit Tschechien ein Teil des europäischen Integrationsprozesses sein soll“, machte Liška deutlich. Der Parlamentarier verdeutlichte seine Position: „Das Ziel der europäischen Integration muss offen bleiben“. Liška sprach sich für einen breiten Konsens hinsichtlich des Sinns der EU-Mitgliedschaft aus, aber auch dafür, dass die Ziele nicht endgültig fixiert werden. In diesen Prozess könnten die unterschiedlichen Erinnerungen integriert werden. Senator Dr. Luděk Sefzig aus Prag plädierte für häufige Treffen der direkten Nachbarn und wandte sich gegen das Prinzip der Kollektivschuld. Die Prosperität betonte er ebenso wie den dynamischen Charakter des Lissabon-Vertrages.

Am Rande des Symposiums feierten die Tagungsteilnehmer in der St. Jakobskirche eine Messe mit Bischof Monsignore Vojtěch Cikrle aus Brünn, Msgr. Anton Otte und weiteren Konzelebranten. Der Bischof dankte „für alle Solidarität, die von der Ackermann-Gemeinde dieser Kirche immer wieder erwiesen wurde“ und sah es als wichtige Aufgabe an, „das zu heilen, was verwundet ist“. Auch dem Empfang am Samstagabend wohnte der Bischof bei.

Markus Bauer

Der deutsch-tschechische Dialog in Brünn hat eine lange Tradition