Ende eines sudetendeutschen Mythos

Vor nunmehr achtzig Jahren, in der Nacht vom 29. auf den 30. September 1938, wurde in München das sog. "Münchner Abkommen" unterzeichnet, welches die Abtretung des "Sudetenlandes" an das Deutsche Reich vorsah. Der Historiker Dr. Otfrid Pustejovsky erinnert in seinem Beitrag daran, dass mit der Besetzung des Sudetenlandes durch deutsche Truppen auch die Verfolgung begann.

Nur 10 Jahre nach dem Beginn der Vertreibung und keine 10 Meter vom Eisernen Vorhang bei Haidmühle oberhalb Nur 10 Jahre nach dem Beginn der Vertreibung und keine 10 Meter vom Eisernen Vorhang bei Haidmühle oberhalb Geistliche Beirat der Ackermann-Gemeinde vor den Teilnehmern der AG-Jahrestagung und der Bundeswoche der Jungen Aktion eine geradezu flammende Rede an seine sudetendeutschen Landsleute und die deutsche Öffentlichkeit.

In Anwesenheit des geistlichen Vertreters des tschechischen Exils, Dr. Alexander Heidlers, beschwor Pater Dr. Paulus Sladek Anwesende und Nichtanwesende, sich demütig freizumachen von allen Illusionen, Geschichtsmythen und dagegen eigenes Fehlverhalten zu erkennen. Dabei bezog er sich besonders auch auf den Mythos der „Befreiung“ vom „tschechischen Joch“ des Jahres 1938.

80 Jahre nach „München“ und mehr als ein halbes Jahrhundert nach dieser Rede will gerade die Ackermann-Gemeinde in der geistigen Tradition ihrer Gründer Hans Schütz, P. Paulus Sladek und Dr. Franz Haibach nachdrücklich erinnern und gleichzeitig in die Zukunft schauen.

Am 29. September 1938 unterzeichneten Adolf Hitler, Benito Mussolini, Édouard Daladier und Neville Chamberlain im Münchner NS-Repräsentationsbau – der heutigen Musikhochschule – gegenüber dem historischen Königsplatz einen Vertrag: das sogenannte „Münchner Abkommen“ über die Abtretung von 28.942 Quadratkilometern Gebietsfläche der in die Tschechoslowakische Republik 1918 einbezogenen Gebiete mit überwiegend deutscher Bevölkerung. Mit diesem „Papier“ – so der britische Premier – schien einerseits der selbst von den Prager deutschen Botschaftsangehörigen befürchtete Angriffskrieg Hitler-Deutschlands abgewendet zu sein, und das damalige „Europa“ meinte andererseits, dem überwiegenden Wunsch und Streben der „Sudetendeutschen“ – seit den 1920er Jahren auch aus wirtschaftlicher Notlage heraus und seit 1933 mit politischen Einheitsvorstellungen nach einem „Anschluss“ an das Deutsche Reich – voll entsprochen zu haben.

Doch die begeistert gefeierte und auf den Straßen begrüßte „Befreiung“ sah bereits ab dem 1. Oktober 1938 ganz anders aus: Innerhalb einer Woche besetzten Teile von fünf Heeresgruppen der Wehrmacht das Gebiet und stellten es zunächst unter Militärverwaltung, der bald eine ungewohnte neue Verwaltung folgte. Gleichzeitig besetzten Sonderkommandos der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) von allen Seiten aus netzförmig die „befreiten“ Gebiete und installierten nach lange vorbereiteten Plänen sofort einen im Reich bereits funktionierenden Repressionsapparat. So gab es innerhalb der nächsten sechs bis acht Wochen im Raum Karlsbad 1.157 Verhaftungen, im Gebiet von Eger 971, in Reichenberg 2.500 und in Troppau 390. Bis Dezember 1938 waren dann schon 2.500 Männer im KZ Dachau. Das waren mehr Verhaftungen als selbst direkt nach der Machterringung durch die NSDAP im Deutschen Reich.

Auch die Verfolgung der Kirchen als erste „Feinde“ des Regimes begann sofort: Die Diözesen waren durch „Staatsgrenzen“ geteilt, das Konkordat galt nicht für sie, Priester erhielten keinerlei finanzielle Staatshilfen mehr, wie in der Tschechoslowakei noch üblich. Sie mussten oft sogar um ihr „tägliches Brot“ betteln und wurden von der Gestapo sofort ins Visier genommen: verhört, verhaftet, eingesperrt, ins KZ verfrachtet. 8.000 bis 10.000 sudetendeutsche Sozialdemokraten zogen es vor, um der Verhaftung als „Staats- und Volksfeinde“ zu entgehen, ins Ausland zu fliehen. Ein so betrachtet bis heute immer noch nicht erkannter „Vorgeschmack“ auf die Vertreibung nach 1945!

Die Wirtschaft wurde umgehend auf Kriegsbedürfnisse umgestellt, das gesamte Rechts- und Verwaltungswesen inhaltlich und sprachlich dem „Reich“ angepasst und unterworfen, alle sudetendeutschen Parteien, Verbände, Vereine, Jugendbünde wurden aufgelöst oder verboten, Vereinsvermögen zu Gunsten des „Reichs“ entschädigungslos eingezogen, das heißt: enteignet.

Was bedeutete dies alles? Die seit 1933 im sogenannten „Dritten Reich“ – diese Selbstbezeichnung ist eine Geschichtsfälschung! – errichtete, mit sofortiger Gewalt durchgesetzte und allumfassend organisierte NS-Diktatur Hitler-Deutschlands konnte ihr System nunmehr unter internationaler Anerkennung des „Münchner Vertrags“ den Deutschen in den Sudetengebieten voll überstülpen. Dies geschah in Verbindung mit Nichtwissen oder Ignorieren der wirklichen Anliegen und Bedürfnisse der außerhalb der Grenzen seit Jahrhunderten beheimateten und im historischen deutschen Kulturbewusstsein lebenden Deutschen. Damit wurde endgültig dem sudetendeutschen Befreiungstraum vom „tschechischen Joch“ ein Ende bereitet. Dieser war ein seit Anbeginn 1918 unrealistischer Traum, der auch 100 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, 80 Jahre nach dem Münchner Abkommen und mehr als 70 Jahre nach der Vertreibung manche Köpfe Sudetendeutscher wie ein Nebel weiterhin durchwabert. Uns muss bewusst sein, dass die Sudetendeutschen ab dem 1. Oktober 1938 „die Kehrseite der großdeutschen Begeisterung durch Repressalien, Verfolgung und Ausschreitungen kennenlernen“ (Freia Anders: Strafjustiz im Sudetengau 1938-1945, München 2008, Seite 86-87). Wer „München 1938“ noch immer als Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes sieht, der ist historisch nicht nur ungebildet, sondern vertritt ein verqueres und unentschuldbares Geschichts- und Menschenbild.

Dr. Otfrid Pustejovsky
Historiker

Jubel zur Begrüßung. Einmarsch deutscher Truppen in das Adlergebirge im Oktober 1938. (Foto: Privatarchiv Eduard Vacek, Prag)