Eine tiefere Reflexion zu historischen Dingen erreichen

Ondřej Matějka referierte beim jüngsten Themenzoom der Ackermann-Gemeinde

Einen Monat nach der Feier ihres 75-jährigen Jubiläums in Prag lud die Ackermann-Gemeinde – inzwischen fast traditionell – am ersten Dienstag im Monat via Internet zum Themenzoom ein. Diesmal verfolgten an 69 Bildschirmen die Teilnehmer aus Tschechien und Deutschland die Ausführungen Ondřej Matějkas zu der Frage „Wie umgehen mit den historischen Erfahrungen des 20. Jahrhundert? Ringen um Geschichte in Tschechien“.

 

„Es sind auch neue Leute dabei“, freute sich Moderator Rainer Karlitschek, der erstmals aus Bern, seinem neuen beruflichen Wirkungsort, zugeschaltet war. Das Thema selbst bezeichnete er als „Dauerbrenner“ bzw. „urtypisches Ackermann-Thema“, wobei jedoch die aktuelle Sicht aus der tschechischen Perspektive interessant sei. Zwar ist Ondřej Matějka gut bekannt bei der Ackermann-Gemeinde, dennoch stellte Karlitschek den Referenten des Zooms kurz vor.

Viele Jahre war Matějka bei der tschechischen Bürgervereinigung „Antikomplex“ aktiv und hat als deren Geschäftsführer in Tschechien wichtige Impulse für die Reflexion über die Geschichte der Deutschen in den Böhmischen Ländern und die Vertreibung der Deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gegeben. Nun ist er stellvertretender Direktor des Instituts zur Erforschung totalitärer Regime (Ústav pro studium totalitních režimů, ÚSTR) in Prag, der tschechischen „Gauck-Behörde“, mit 300 Mitarbeitern. Diese forscht über die Zeit der nationalsozialistischen Besatzung und des kommunistischen Regimes und verwaltet das Archiv der tschechoslowakischen Staatssicherheit Stb.

Anhand von vier Thesen beschrieb Matějka zunächst den Umgang mit der Geschichte in Tschechien. „Wir haben in Tschechien keinen geschichtlichen Kulturkrieg“ lautete die erste These, die er mit der zweiten Aussage vertiefte. „Geschichte des 20. Jahrhunderts ist zwar  immer wieder präsent, spielt aber nur eine geringe Rolle in der Politik“. Hier verwies er auf andere Entwicklungen und Diskussionen etwa in Polen (Thematik „Konzentrationslager“). „So etwas ist kein brennendes Thema in Tschechien, was aber ein Thema der Politik wäre – wir haben keine Politisierung der Geschichte“, erläuterte der Referent seine zwei ersten Thesen. „Geschichtliches Ringen spielt sich auf immer kleineren Feldern ab, umso heftiger kann es jedoch werden. Die Heftigkeit der Kontroversen ist dann vielen unverständlich und stößt die mehrheitliche Gesellschaft ab“, führte Matějka als dritte These an. Auch diese vertiefte er. „Kontroversen, auch wenn sie medial sichtbar sind, interessieren nur einen kleinen Kreis von Personen“, konkretisierte er und verwies dabei auf das – wie man meist in Deutschland sagt – Bildungsbürgertum. Er kritisierte zudem, dass die „Teilnehmer der Gefechte“, d.h. der Diskussionen, ihre Meinung nicht an die Bevölkerung zu vermitteln versuchen. Diese Einschätzung unterstrich der Referent mit der zusammenfassenden vierten These: „Es wird viel erinnert, wenig reflektiert.“

Mit einigen Beispielen untermauerte Matějka die Aussagen seiner Thesen. So die 2019 erfolgte Ergänzung des Denkmals zur Erinnerung an den Zusammenstoß zwischen Studenten und der Polizei (17. November 1989, Auftakt der Samtenen Revolution) mit ähnlichen künstlerischen Motiven. Diese wiesen auf den 17. November 1939 (Verhaftung und Ermordung tschechischer Studenten durch die Nazis) und den 17. November 2009 (Stinkefinger, Rede von Staatspräsident Zeman) hin. „Viele Fragen aus der Vergangenheit (z.B. tschechische Kollaboration) werden nicht angesprochen. Es gibt noch viele offene Fragen. Das führt aber zu Gleichgültigkeit bzw. Aggressivität. Die Gleichgültigkeit ist unser Problem in Tschechien“, fasste Matějka sein erstes Beispiel zusammen.

Als zweites Exempel zeigte er Plakate von fünf Filmen aus den letzten ca. vier Jahren mit historischen Bezügen und Inhalten. „Themen aus der Geschichte sind sehr beliebt in Filmen und Büchern. Aber es geschieht wenig Reflexion, kritische Fragen zur Geschichte werden nicht immer gestellt“, so der Vortragende.

Als weiteres Beispiel führte er den Holocaust gegenüber der Volksgruppe der Roma an, was in den zurückliegenden drei bis fünf Jahren in Tschechien stärker thematisiert wurde. Anhand eines Bildes, das einen tschechischen Polizisten vor einem Internierungslager zeigt, machte Matějka auf die Beteiligung der tschechischen Behörden aufmerksam – „ein schwieriges Thema“, bilanzierte Matějka. Auch ein früheres Lager für Roma, das lange als Schweinemastbetrieb diente und in eine Gedenkstätte umgebaut werden sollte, führte er als Beispiel dafür an, dass Tschechen nicht nur Opfer der NS-Machthaber waren.

Ein häufig heikles Thema ist in Tschechien die Beziehung zu Russland. Anhand eines beseitigten Denkmals des sowjetischen Marschalls Iwan Stepanowitsch Konew stellte Matějka fest, dass es keine Debatte über Konews Rolle gegeben habe. Zur Erinnerung: Konew war im April 1945 einer der Befreier Berlins, erreichte am 9. Mai 1945 mit sowjetischem Militär in Prag, war mitverantwortlich für die Niederschlagung des Aufstands in Ungarn 1956, für den Mauerbau in Berlin und beteiligt an den Vorbereitungen des Einmarsches der Truppen des Warschauer Paktes 1968 in die Tschechoslowakei. Die fehlende Diskussion bzw. das Entfernen des Denkmals habe die antirussische Stimmung befeuert und nicht zur Klärung beigetragen.

Ähnlich bewertete der Referent den Versuch eines Stadtteilbürgermeisters von Brünn, im Rahmen der Renovierung eines Denkmals für gefangene Rotarmisten das Hammer-und-Sichel-Symbol zu entfernen. „Mir wäre es lieber, solche Dinge anders zu lösen“, brachte es Matějka auf den Punkt.

Abschließend ging er auf die Geheimdienstakte des tschechischen Ministerpräsidenten Andrej Babiš ein, in der „nicht viel Neues über Babiš zu erfahren“ gewesen sei. „Es gehörte zum Beruf, er wollte für seine Karriere alles machen. Somit ist es ein typisches Beispiel für eine wirkungslose Debatte“, bewertete Matějka den Sachverhalt. Heute sei eine neue Definition bzw. Herangehensweise hinsichtlich der historischen Fakten (NS-Besatzung, kommunistische Diktatur) nötig. Man müsse - aus der historischen Erfahrung - zu neuen Fragestellungen kommen und damit zu einer tieferen Reflexion.

Die Fragen bzw. Diskussionsbeiträge zielten auf die Bedeutung und den Stellenwert von historischen Romanen, die Erstellung von Forschungskriterien durch das Institut im Blick auf das „Abdriften in den Totalitarismus“ und auf die heutige Rolle der Kommunistischen Partei in Tschechien. Entsprechende Literatur habe zwar viele Leser, so Matějka, aber bestimmte Fragen und Zusammenhänge würden oft fehlen und damit keine Diskussionen anregen. Da das Institut zur Erforschung totalitärer Regime von den Ursprüngen her als Mittel des Kampfes gegen den Kommunismus und die Kommunisten gegründet worden sei, werde die Aufgabe als Frühwarnsystem unterschiedlich gesehen. Nichtsdestotrotz sieht der stellvertretende Direktor den Schutz der Freiheit – heute und in Zukunft – als wichtige Aufgabe und damit auch die Einführung politischer Bildung in die Institutsarbeit. Ein Verbot der kommunistischen Partei sei unmittelbar nach der Wende schlicht nicht möglich und angebracht gewesen. „Mit einem Verbot verschwindet das Problem nicht“, erklärte Matějka. Zudem sei die sozialdemokratische Partei entstanden, die Kommunisten würden in naher Zukunft keine große Rolle mehr spielen.

Markus Bauer

Ondřej Matějka bei seinem Vortrag.
In der Mitte das Originaldenkmal in Erinnerung an den Start der Samtenen Revolution, rechts und links die Ergänzungen mit Hinweisen an weitere wichtige Fakten zum 17. November.
Nach der Bedeutung und Rolle der Kommunistischen Partei in Tschechien fragte Radoslav Hospodár.