Ein Blick auf die wahrscheinlich künftige tschechische Regierung

Gut einen Monat nach den Parlamentswahlen in der Tschechischen Republik stand eine detaillierte Analyse im Zentrum des monatlichen themenzooms der Ackermann-Gemeinde. Die tschechische Journalistin Bára Procházková erklärte unter dem Titel „Tschechien nach der Wahl. Ein Spaziergang zwischen politischen Stolpersteinen“ die Entwicklungen und versuchte sie einzuordnen. Denn die Bewegung ANO des bisherige Ministerpräsidenten Andrej Babiš erreichte überraschend nur den zweiten Platz. Wahlsieger wurde das Bündnis „Spolu“ („Gemeinsam“) aus ODS, KDU-ČSL und TOP 09, die gemeinsam mit einem Bündnis aus STAN und Piraten eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus erreichten.

Aus der Schweiz hieß Moderator Rainer Karlitschek die an 69 Computern versammelten Teilnehmer aus Deustschland, Österreich und Tschechien willkommen – besonders die Referentin, die nun zum zweiten Mal den themenzoom bestritt und von einem Seminar der Georg-von-Vollmar-Akademie in Kochel am See zugeschaltet war. Das bedeutete, dass auch dort Interessenten den Zoom verfolgten. Obwohl bei der Ackermann-Gemeinde bestens bekannt, stellte Karlitschek die Referentin des Abends kurz vor: Procházková studierte Politikwissenschaft und Osteuropastudien an der Universität Hamburg. Sie war unter anderem als Redakteurin beim Tschechischen Rundfunk ČRo und beim Magazin „Respekt“ tätig. Seit einigen Jahren ist sie Chefin vom Dienst des Internetportals ČT24.cz, des Nachrichtensenders des öffentlich-rechtlichen Tschechischen Fernsehens ČT.

Es sei eine „Riesenüberraschung für alle“ gewesen, so Procházková, dass bei der Wahl am 8. und 9. Oktober Babiš und ANO nicht gewonnen haben. Hauchdünn lag mit 27,79 Prozent das Bündnis „Spolu“ vor ANO mit 27,12 Prozent. Das Bündnis aus STAN und Piraten kam mit 15 Prozent auf den dritten Platz. Das Scheitern der Kommunisten sei laut der Referentin vielfach begrüßt worden. „Die beiden demokratischen Koalitionen haben zusammen die Mehrheit, 108 von 200 Abgeordneten“, stellte Procházková fest und wies auf deren Erklärung hin, miteinander eine Koalition dieser fünf Parteien versuchen zu wollen und nicht mit Andrej Babiš zu verhandeln.

Für die neue Konstellation nannte die Journalistin mehrere Gründe: zum einen das neue Wahlgesetz in Tschechien, wodurch in Parteienbündnisse zusammengeschlossene kleine Parteien die bisherigen Hürden überspringen können. Zum anderen aber – und das habe wohl den Ausschlag gegeben – die „Unzufriedenheit bei der Bevölkerung“, aber auch die Fehleinschätzung Babiš’, der die Piraten als den Hauptgegner sah, weshalb das Bündnis „Spolu“ schließlich stärker wurde. „Vor allem die jungen Leute zwischen 18 und 34 Jahren konnten mobilisiert werden, hier ist die Wahlbeteiligung um elf Prozent gestiegen“, erklärte Procházková. Und diese hätten zu einem großen Teil (64 Prozent) die Parteien der zwei Bündnisse gewählt. Auf diese sei auch in den Großstädten die Mehrheit der Stimmen gefallen, während Babiš ANO vor allem in den früheren Sudetengebieten vorne gelegen habe.

„Andrej Babiš hat sehr friedlich reagiert und das Wahlergebnis anerkannt“, schilderte die Referentin. Immerhin stellt ANO die meisten Abgeordneten im neuen Parlament. Der erkrankte Staatspräsident Miloš Zeman hatte zuvor erklärt, mit der Regierungsbildung die stärkste Partei zu betrauen. Ungeachtet dieses Aspekts hätten die beiden Bündnisse aber Gespräche zur Regierungsbildung aufgenommen, wobei laut Procházková die Rolle der Piraten, die bei der Wahl von 20 auf vier Abgeordnete geschrumpft sind, noch unklar ist. Doch eine Mehrheit von gegebenenfalls 104 Abgeordneten gäbe es immer noch. „Die Verhandlungen laufen derzeit auf Hochtouren. Es gibt aber noch keine inhaltlichen Punkte aus den Verhandlungen“, fasste die Journalistin den aktuellen Stand zusammen.

Aber sie versuchte, diese mögliche künftige tschechische Regierungskoalition ein wenig zu beschreiben, ja zu charakterisieren: pro-europäische Prägung (Tschechien als ein europäisches, westliches Land mit westlichen Standards), anti-chinesisch und anti-kreml – so die im ersten Blick sich darstellenden Eigenschaften. Allerdings hätten diese Parteien ein Bild eines Europa der 1990er Jahre im Blick. „Die Europäische Union hat sich in den letzten Jahren geändert. Diese Änderungen der EU werden kritisch gesehen“, relativierte Procházková. Dies betreffe unter anderem den Klimawandel und die damit verbundenen Pläne der EU, die Position zur gleichgeschlechtlichen Ehe, zur Gleichheit von Mann und Frau, die Einführung des Euro und den Umgang mit Corona. Weitere schwierige Themen seien die Schuldzuweisung an die EU-Kommission für den Brexit, viele Trump-Befürworter und die Präsenz von ODS-Europaabgeordneten in der EU-skeptischen Fraktion des Europaparlaments. Auch die Positionierung in der Visegrád-Gruppe könne zum Stolperstein werden. Zudem gebe es wenig Kontakte zu Deutschland, zu politischen Stiftungen und auf der Ebene des Europaparlaments, nannte Procházková abschließend weitere Defizite.

Die zuletzt staatsmännischen Auftritte von Andrej Babiš würden auf dessen Ambition an der Position des Staatspräsidenten hindeuten, 2023 steht die nächste Wahl an. Mit einer Regierung der Parteien aus den zwei Bündnissen ist wohl zu rechnen, auf die inhaltlichen Aspekte darf man gespannt sein.

Markus Bauer

Bára Procházková
Die Journalistin Bára Procházková bei ihrem Vortrag.
themenzoom
Ein Teil der den themenzoom zur Parlamentswahl in Tschechien verfolgenden Teilnehmer.
Rainer Karlitsche themenzoom
Moderator Rainer Karlitschek bei der Einführung und Begrüßung.