„Diese Männer und Frauen müssen dem Vergessen entrissen werden!“

Glaubenszeugen in totalitärer Zeit waren das Thema beim V. Symposium „Patrone Europas“ im Kloster Rohr, zu dem das Sozialwerk der Ackermann-Gemeinde eingeladen hatte.

„Das Zeugnis geben gehört zu unserem Glauben!“ Auf diesen Nenner, basierend auf der Passage „zu Zeugen in der Welt“ des Liedes „Ein Haus voll Glorie schauet“, brachte der Abt der Benediktinerklöster Rohr und Scheyern, Markus Eller OSB, die Thematik des V. Symposiums „Patrone Europas – Glaubenszeugen in totalitärer Zeit“ Ende Oktober im niederbayerischen Kloster Rohr. Gut 120 Teilnehmer – ein Drittel aus Tschechien und der Slowakei – verfolgten die Vorträge über Glaubenszeugen im Nationalsozialismus, im Sozialismus bzw. Kommunismus sowie die Schilderungen von Zeitzeugen.

Die Gäste hieß der Protektor des Sozialwerks, Abt. em. Emmeram Kränkl OSB aus Schäftlarn, willkommen, der auch die Moderation am Eröffnungsabend innehatte. Die „Menschen, die durch ihr Zeugnis auf großen Widerstand gestoßen sind und mit ihrem Blut dafür zahlten“ nahm Abt Eller in seinem Grußwort in den Blick und verband dies mit der Ermunterung, „auch heute Zeugnis für unseren Glauben zu geben“.

In seinem Eröffnungsvortrag zum Thema „Individualität unerwünscht – Leben in totalitären Staaten“ bezeichnete Prof. Dr. Eckhard Jesse, Inhaber des Lehrstuhls für Politische Systeme und Politische Institutionen an der Technischen Universität Chemnitz, das 20. Jahrhundert als „Jahrhundert des Totalitarismus und seiner Überwindung“. Als Charakteristika totalitärer Systeme nannte er unter anderem die absolute Entgrenzung der Gewalt, das Vorgehen gegen politische Feinde und „die Bereitschaft vieler Menschen, alles im Dienst des Systems zu tun“. Als Kehrseiten stellte er „unvorstellbare Repressionen“ fest, wobei die Wahrheit zur Lüge und umgekehrt die Lüge zur Wahrheit werde. Jesse ging der Frage auf den Grund, ob und inwieweit die Gründung der UdSSR im Jahr 1917 und die NS-Machtergreifung 1933 bzw. der Untergang des Dritten Reiches 1945 und des Sozialismus/Kommunismus in Mittel-, Ost- und Südosteuropa 1989/90 in Zusammenhang stehen. „Nachahmung und Feindschaft schließen sich nicht aus, der Untergang des Nationalsozialismus geht wesentlich auf den Kommunismus zurück“, lauteten zwei seiner Aussagen, wobei er aber auch auf Gemeinsamkeiten totalitärer Systeme hinwies: „Der gemeinsame Gegner war die Demokratie, die parlamentarische Staatsform - das Individuum blieb auf der Strecke“. Und der Enthusiasmus der Massen, deren Glaube an eine historische Mission, galt für beide Systeme, ebenso der Glaube an die Gemeinschaft. Jesse erläuterte auch, dass der Triumph des Nationalsozialismus durch den vorangegangenen Sieg des Bolschewismus erleichtert worden war, andererseits die Niederlage des Dritten Reiches den Niedergang des Kommunismus verlangsamte. Ein „Bonus“ des Kommunismus gegenüber dem Nationalsozialismus sei der universalistische Gedanke gewesen, aber auch der Aspekt, dass sich im Kommunismus die Deformation erst in der Praxis, beim Nationalsozialismus diese bereits im System gezeigt habe. Für beide Totalitarismen gelte aber, so Jesse, dass deren Opfer bis ins Äußerste entmenschlicht wurden, was zahlreiche Dokumente von Deportationen aufzeigen. Als weitere Wesensmerkmale totalitärer Systeme führte Jesse den Terror und den Rassismus an sowie idealisierte Zielpunkte (klassenlose Gesellschaft, Herrenrasse) und pseudoreligiöse Elemente. Für die heutige Zeit verwies Jesse auf immer neue totalitäre Entwicklungen wie etwa den islamischen Fundamentalismus.

Speziell um „christliche Zeugnisse in Zeiten des Nationalsozialismus“ ging es im Referat von Prälat Prof. Dr. Helmut Moll, dem Beauftragten der Deutschen Bischofskonferenz für das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts. „Diese Männer und Frauen müssen dem Vergessen entrissen werden“ lautete Molls Botschaft und er verwies auf das in zwei Bänden erschienene Werk „Zeugen für Christus“, in dem bereits 720 Personen aus der Zeit des Nationalsozialismus, des Kommunismus und der Nachkriegsjahre verzeichnet sind. Als Merkmale für ein „Martyrium“ nannte der Referent folgende Fakten: Christlicher Märtyrer ist, wer das Leiden Christi annimmt und es erleidet; dass einer Zeugnis für Christus gegeben hat; dass er bereit ist, für den christlichen Glauben zu sterben. „Wenn diese drei Kategorien erfüllt wurden, geschah eine Aufnahme ins Martyrologium“, führte Moll aus und erwähnte, dass in Rom insgesamt 16.000 Namen genannt wurden und derzeit aus diesem Bereich über 100 Selig- und Heiligsprechungsverfahren laufen. Anhand von Personen aus der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, der Märtyrer des Lübecker Christenprozesses, der „Stettiner Kapläne“ sowie der Einzelpersonen Sr. M. Epiphania Pritzl aus Hirschau in Böhmen sowie des Journalisten und Familienvaters Nikolaus Groß aus dem Ruhrgebiet machte der Referent deutlich, dass die Schaffung eines neuen Europas aus christlichem Geist ebenso Motivation für deren Handeln war wie die ökumenische Zusammenarbeit oder der Standpunkt von der Unvereinbarkeit des christlichen Glaubens mit dem Nationalsozialismus. „Es ist wertvoll, dieser Männer und Frauen zu gedenken, ihre Ideen weiterzutragen und dem Vergessen zu entreißen“, fasste Moll zusammen und appellierte an die Zuhörer: „Diese konnten es, warum nicht auch wir?“

Intensiv beschäftigt mit der Erstellung eines Martyrologiums für die Böhmischen Länder ist Dr. Jan Stříbrný Vizepräsident der Tschechischen Christlichen Akademie. Hier werden Märtyrer aus zwei totalitären Regimen dokumentiert, im Jahr 2012 soll das Manuskript fertiggestellt sein. Aktuell sind 240 Personen erfasst – Priester, Ordensleute und Laien aller Nationalitäten. Exemplarisch schilderte er die Schicksale des Pfarrers František Štverák, der von den Nationalsozialisten und Kommunisten verfolgt wurde, und des Laien František Valena, gegen den 1951 als erster Katholik in der Tschechoslowakei ein politischer Prozess angestrengt wurde, wobei dadurch auch seine Familie betroffen wurde.

Unter dem Titel „Gärtnerei im Norden oder Löwengrube“ beleuchtete Prof. Dr. Josef Pilvousek, Inhaber des Lehrstuhls für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Universität Erfurt, die Situation der Katholiken in der DDR. Zunächst habe man, da es nur wenige angestammte katholische Territorien gab, von einer Flüchtlings- bzw. Vertriebenenkirche sprechen können. „Der Antikommunismus prägte die katholische Kirche, zur konfessionellen kam die ideologische Diaspora“, beschrieb Pilvousek die Lage in den ersten Jahren. Erst ab etwa 1961 habe sich eine eigene Identität der Katholiken in der DDR herausgebildet. Der Referent ging auf die abgetrennten Gebiete, die Trennung von nun in Westdeutschland gelegenen Diözesen und die Neustrukturierung der Bistümer bzw. Bischöflichen Kommissariate und Administraturen ein mit lange nur drei Bischöfen. Während vor 50 Jahren 1.668.700 Katholiken in der DDR lebten, sind es heute in den neuen Bundesländern noch rund 700.000. Pilvousek zeigte anhand von Zitaten einiger Bischöfe zwischen 1951 und 1989 die unterschiedlichen Positionen im Verhältnis zum Staat. So sprach Meißens Bischof Otto Spülbeck in seiner Predigt beim 77. Katholikentag in Köln 1956 vom „fremden Haus“ und meinte damit, dass man mit dem Kommunismus klar kommen müsse. „Die Kirche soll nicht vom Staat überrollt werden“ war eine Maxime von Alfred Kardinal Bengsch, Bischof in Berlin von 1961 bis 1979. Das Evangelium für Mitteldeutschland buchstabieren war Vorgabe des Apostolischen Administrators des Bischöflichen Amtes Erfurt-Meiningen und jetzigen Bischofs Joachim Wanke. „Der Umgang der Kirche mit dem Staat und der Partei vollzog sich in unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlichen Vorgehensweisen“, fasste Pilvousek zusammen und nannte das „Modell der regulierten Gesprächsführung“, bei dem eine offene Konfrontation mit Staat und Partei vermieden werden sollte, um Seelsorge zu ermöglichen. „Der Aufbau des Leibes Christi ist unsere Aufgabe, nicht die Bekämpfung des Kommunismus. Die Kirchen waren kein Lager der Widerständler und keine oppositionelle Institution“, schloss der Referent seine Ausführungen.

Die damalige Situation in der CSSR beleuchtete Pater Dr. Ondřej Salvet, Administrator der Pfarrei Kreuzerhöhung in Prag. Er verdeutlichte, dass die Kommunisten vor allem in der katholischen Kirche einen Klassenfeind sahen und daher bald nach der Machtübernahme 1948 zunächst Bischöfe und Äbte verhafteten, um die Kirche zu schwächen. Erst in den 60er Jahren konnten die Priester, so Salvet, ihre pastoralen Aufgaben wieder aufnehmen – allerdings ohne gegenseitige Kontakte und überwacht von der Staatspolizei. „Ein freies Studium der Theologie war nicht möglich“, erläuterte Salvet zu den 70er Jahren, weshalb in der Tschechoslowakei die verborgene Kirche entstand mit Bischof Felix Maria Davídek als ein Kopf. Daraus resultierten unter anderem verheiratete Priester, Frauen als Priesterinnen und geheim geweihte Bischöfe, die vom Vatikan nicht anerkannt wurden. Der Referent verwies auch auf die mit dem Regime kooperierenden „Friedenspriester“. Es habe „keine scharfe Trennung zwischen den Kirchen im Ober- und Untergrund“ gegeben, so Salvet, Zusammenarbeit und Kooperation seien üblich gewesen. In den 80er Jahren habe der Druck auf die Kirche wieder zugenommen, fasste der Geistliche zusammen.

Zeitzeugen aus Tschechien, der Slowakei und der DDR standen Rede und Antwort beim Kamingespräch zum Thema „Leben in unfreien Systemen“ am Samstagabend, an dem Günter Nooke, ehemaliger Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung und jetziger persönlicher G8-Afrika-Beauftragter der Bundeskanzlerin, der Pilsener Bischof František Radkovský und der Botschafter a.D. Dr. Jozef Mikloško aus Pressburg/Bratislava teilnahmen. Der Bischof erzählte, dass er – als gläubiger Christ – versprechen musste, nicht als Lehrer in einer Schule tätig zu werden. Auf die Bedeutung der familiären Wurzeln wiesen gleichermaßen Mikloško und Nooke hin – Nookes Eltern verneinten dessen Mitgliedschaft bei den Pionieren. „Mit zwölf, dreizehn Jahren wusste man, warum man anders dachte und einen anderen Weg ging“, blickte der G8-Afrika-Beauftragte zurück. Daher wählte er ein Studium, das wenig mit Ideologie zu tun hatte, zumal er bereits in der Schule seine Meinung oft offen äußerte. „Das hatte die Folge, dass man manche Dinge nicht machen konnte“, schilderte Nooke. So konnte er das Abitur erst nach einer Handwerksausbildung machen.

Auch bei Bischof Radkovský führte der Weg nicht direkt zum Priesterberuf, zunächst war er als Statistiker tätig. Anfang der 60er Jahre verstärkte sich bei ihm nach der Begegnung mit einem Priester wieder der Wunsch, diesen Beruf zu ergreifen. Nach dem zweijährigen Dienst in der Armee, die er als „Reifezeit“ deutet, entschied er sich 1964 definitiv für den Priesterberuf, meldete sich für das Priesterseminar an und begann 1966 das Studium.

Von Kompromissen, die man in einem totalitären System machen muss, sprach Günter Nooke. „Wir haben gesehen, dass große Unfreiheit herrscht“, schilderte Mikloško die Gespräche über Politik und Kirche im Familienkreis. Nur geheim konnten sich die christlichen Jugend- und Familienkreise treffen. Die Kommunität mit weiteren Priestern war für den heutigen Pilsener Bischof ebenso wichtig wie die Maxime, frei zu sein, das heißt sich nicht in die Abhängigkeit von den Machthabern zu begeben.

Für Mikloško, der beruflich immer auch im Ausland war, gab es nie einen Anlass, ins Exil zu gehen. „Gott wollte mich da haben“, meinte er dazu. Auch Nooke verließ die DDR nicht. „Man kann immer was verändern, möglichst viele müssen in einer Richtung was verändern wollen“, ist der Afrika-Beauftragte überzeugt.

Über 20 Jahre nach dem Umbruch in der DDR und in der Tschechoslowakei wünscht sich Jozef Mikloško, dass wieder Moral und Ethik an Bedeutung gewinnen. „Die Öffnung zu spirituellen Welten wird immer größer“, stellte auch Pilsens Oberhirte fest und wünscht eine solche Rückorientierung auch im Westen Europas. „Es bleibt viel zu tun, dass die Leute frei bleiben. Das ist eine große Aufgabe der Kirche und der ganzen Gesellschaft – und das kann nur im Glauben sein“, warnte der Bischof vor heutigen Götzen wie zum Beispiel Drogen oder Sex. Günther Nooke empfahl die Betreuung und Erziehung der Kinder im Elternhaus – und nicht nur in Kinderkrippen und -gärten.

Über die Grundlagen und Hintergründe der Menschenrechte sowie den aktuellen Stand des Rechts auf Religionsfreiheit informierte zum Abschluss Günter Nooke. Er betonte vor allem den Bezug auf den einzelnen Menschen, die universale Gültigkeit und den Schutz durch die Staaten. „Das Problem sind die Diktaturen, in denen den Menschen die elementarsten Freiheitsrechte vorenthalten werden. Dort fehlt der politische Wille, die Menschenrechte zu schützen“, betonte Nooke. Die Religionsfreiheit sah er dabei als das wohl älteste Menschenrecht. „Religion ist wichtig für einen stabilen, wertebasierten Staat“, ergänzte er und stellte unmissverständlich fest, dass auch heute die Religionsfreiheit bedroht ist, Christen in vielen Ländern der Welt, zum Beispiel in Nordkorea, Iran, den islamisch-arabischen Staaten und Afrika, verfolgt werden. Für Europa selbst stellte er eine Tendenz zu stärkerer Religiosität und Spiritualität fest.

Zusammen mit mehreren Priestern zelebrierte zum Abschluss des Symposiums Bischof Radkovský einen Gottesdienst in der Rohrer Asamkirche. In seiner Predigt machte er deutlich, dass neben der Gottes-, Nächsten- und Eigenliebe die Feindesliebe gleichrangig ist. „Wir sollten so lieben, dass wir uns um die Einheit und Offenheit bemühen, damit wir verstehen können, was der andere denkt, meint und will. Unsere Liebe soll so provokativ sein, dass es auch den Anderen provoziert zu lieben. Denn wenn auch der Andere liebt und sich öffnet, öffnet auch er sich zu Gott. Die Liebe soll letztlich eine Umkehr im Herzen des Anderen bewirken“.

 

Markus Bauer

 

Auch Radio Pragberichtete über das Rohrer Symposium: Artikel auf Radio Prag

Prälat Moll mahnte zur Erinnerung.