Bethlehem - Ursprung des Lebens

Seitdem ich erstmals das Fest der Geburt Jesu in Prag feierte, weiß ich, dass Weihnachtskrippen in der Moldaumetropole hoch geschätzt sind. Neben den Krippenkunstwerken, die in den Kirchen und Privatwohnungen aufgestellt sind, gibt es in der Stadt auch mehrere Krippenausstellungen. Sie ziehen Touristen und Einheimische gleichermaßen an. Variantenreich findet sich auf diese Weise das Weihnachtsgeschehen ausgelegt, und es wird ein ganz wichtiger Aspekt dieses Festes deutlich: dass sich nämlich der menschgewordene Gott in das alltägliche Leben hineingewagt hat. Besonders fällt dies an den vielfältigen Charakterdarstellungen der Krippenfiguren auf, die sich um die Heilige Familie herum versammeln.

Apropos Bethlehem: Ich finde es besonders sinnig, dass man im Tschechischen nicht von „Weihnachtskrippe“, sondern von „betlém“ spricht. Damit ist ausgedrückt, dass das Weihnachtsgeschehen vor mehr als zweitausend Jahren einen konkreten Ort hatte, zu dem neben konkreten Einwohnern mit ihren Schicksalen und Lebensgeschichten auch eine konkrete gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Struktur gehörte. Wiederum wird der Betrachter daran erinnert, dass Gott in die Bedingungen unseres Menschenlebens eingetreten ist. Die erste Weihnacht ereignete sich in Bethlehem, so wie sie sich heute an jenen Orten ereignen sollte, an denen wir in eine ganz bestimmte Lebenswelt eingebettet sind.

Der Ortsname „Bethlehem“ heißt aus der hebräischen bzw. aramäischen Sprache übersetzt „Haus des Brotes“. Damit erschließt sich eine weitere Sinndimension. Brot gehört zu den wichtigsten Lebensmitteln der Menschheit. Freilich: Für ein sinnerfülltes Leben brauchen wir auch noch mehr als Brot. Gut dreißig Jahre nach seiner Geburt in Bethlehem sagte Jesus einmal: „Der Mensch lebt nicht nur vom Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt“ (Mt 4,4). Weihnachten mag eine Gelegenheit sein, uns zu fragen, inwiefern wir ganz persönlich des Wortes Gottes bedürfen und ob wir Jesus als dem menschgewordenen Gotteswort dieselbe Bedeutung zumessen wie einem Stück Brot, zu dem er sich im Sakrament der Eucharistie letztlich ja auch gemacht hat.

Auf dem Bild, das wir auf dem Titelblatt dieser Zeitschrift sehen, ist ein böhmisches „Bethlehem“ aus Lebkuchen zu sehen. Es trifft sich in unserem Zusammenhang wirklich gut, dass die Wortsilbe „Leb-“ in „Lebkuchen“ mit dem tschechischen Wort für Brot, „chleb“, zusammenhängt. Beide Begriffe leiten sich vom germanischen „hlaiba“ her, das wir heute noch im „Brot-laib“ haben. Der Lebkuchen ist also ein Brotkuchen, und so sieht er auch aus, wenn er frisch aus dem Ofen kommt und noch nicht verziert ist. Was wäre Weihnachten ohne den Lebkuchen und seinen Duft, der sich bereits im Advent aus vielen Backstuben und Küchen verbreitet? Für mich ist dieses Gebäck ein Sinnbild für jenes „Mehr“, ohne das der Mensch über das Brot hinaus nicht wirklich glücklich wird. Es ist ein Symbol der göttlichen Liebe, die wir an Weihnachten besonders intensiv erfahren dürfen.

Die böhmische Lebkuchenkrippe zeigt eine fast unzählige Schar von Figuren, die ganz unterschiedlich sind, aber doch geeint werden vom Staunen und der Freude über die Geburt Jesu. Es ist das Abbild einer großen Gemeinschaft, in der zugleich die Vielfalt nicht aufgehoben ist. So möge es auch in unseren Familien, Gemeinden und Vereinigungen sein. Menschliche Beziehung, Gemeinschaft, Freundschaft – das ist ebenfalls wie Brot, wovon wir Menschen leben. Je erfüllter diese Dimensionen gelebt werden, desto gehaltvoller und zugleich „süßer“ wird dieses Brot. Dazu können alle etwas beitragen: durch Aufmerksamkeit, durch Offenheit, durch Behutsamkeit, durch Versöhnungsbereitschaft, durch gegenseitiges Vertrauen. Die Lebkuchenkrippe zeigt uns aber auch, dass uns all das geschenkt wird, wohl am meisten dort, wo sich Menschen gemeinsam dem wunderbaren Wirken Gottes zuwenden. Möge dies auch für die Ackermann-Gemeinde und ihre Mitglieder so sein. Ihnen allen ein gesegnetes Weihnachtsfest!

P. Dr. Martin Leitgöb CsSR,
Seelsorger der Deutschsprachigen Katholischen Gemeinde Prag


Das Foto (von Tomáš Jež) zeigt die Lebkuchenkrippe in der St. Matthäus-Kirche in Prag-Dejvice. Das Motiv ist der diesjährigen Kartenaktion des Sozialwerks der Ackermann-Gemeinde e.V. entnommen.

Lebkuchenkrippe aus Prag