Auf der Suche nach dem Zusammenhalt Mitteleuropas

Beim inzwischen 20. Deutsch-tschechischen Brünner Symposium – Dialog in der Mitte Europas, federführend organisiert und durchgeführt von der Ackermann-Gemeinde und der Bernard Bolzano Gesellschaft, ging es am vergangenen Wochenende um die Frage, was europäische Gesellschaften zusammenführt und zusammenhält. Referenten aus Deutschland, Tschechien, der Slowakei und Österreich beleuchteten diese Frage in Vorträgen und bei Podiumsgesprächen aus verschiedenen Perspektiven. Deutlich wurde, dass besonders die gemeinsamen Werte und die gemeinsame Geschichte - freilich mit bisweilen unterschiedlichen Rollen und Erlebnissen - solche verbindenden Elemente sein können.

Erneut weit über 200 Teilnehmer aus den genannten vier Ländern verfolgten im Saal des Theaters Reduta die Vorträge und Diskussionen. Der Senatsvizepräsident und Vorsitzende der Bernard Bolzano Gesellschaft Dr. Petr Pithart kritisierte in seiner Rede zur Eröffnung des Symposiums die Nichtbeteilung Tschechiens am Euro-Plus-Pakt und verwies auf die zum 1. Mai in Kraft tretende Freizügigkeit der Arbeitskräfte zwischen Tschechien und Deutschland bzw. Österreich. „Tschechien ist gut aus der Krise herausgekommen, Deutschland ist die Triebkraft der Europäischen Union“, stellte Pithart fest. Der Senatsvizepräsident kann nicht verstehen, dass die Tschechische Republik in den zurückliegenden 20 Jahren keine Verbündeten gesucht hat, in einigen Punkten sogar von der Slowakei überholt worden ist und ein hoher Grad an Euroskepsis zu spüren ist. Dafür seien, so der Senatsvizepräsident, bei den bisherigen Iglauer bzw. Brünner Symposien „viele Konflikte ausgetragen und Missverständnisse ausgeräumt“ worden.

An die spannenden Zeiten kurz nach der Wende und Samtenen Revolution erinnerte in seiner Eröffnung der Bundesvorsitzende der Ackermann-Gemeinde MdEP Martin Kastler. „Heute arbeiten wir gut zusammen im Haus Europa – im Parlament, in den Staaten und in den Zivilgesellschaften“, stellte Kastler fest. Und als kontinuierliche Zukunftsaufgabe formulierte er: „Nur wenn wir gemeinsam in Europa arbeiten, kommen wir auch weiter. Darum ist es unsere Aufgabe, den Dialog in der Mitte Europas zu pflegen“.

Als einen „wichtigen Meilenstein“ bzw. „eine der wichtigsten und dauerhaftesten Veranstaltungen dieser Art“ würdigte der Primator der Stadt Brünn Roman Onderka in seinem Grußwort das Symposium. „Aus dem Dialog wurde eine lebhafte Aussprache über die Vergangenheit und Zukunft – und ein neuer Beginn, eine neue Etappe unserer Zusammenarbeit“ würdigte Ivo Polak, der stellvertretende Hauptmann des Südmährischen Kreises, die lange Tradition dieser Veranstaltung. Die aktuellen politischen Ereignisse nahm der Gesandte der Deutschen Botschaft in Prag Dr. Ingo von Voss in seinem Grußwort zum Anlass, um das scheinbar sinkende Interesse an Mitteleuropa anzusprechen. „Das Zentrum muss aufpassen, dass es nicht zu kurz kommt. Zentraleuropa hat ein eigenes Bewusstsein, eigene Wurzeln und ein eigenes Profil“, stellte von Voss fest und lenkte damit bereits auf die Tagungsthematik hin.

Immer wieder zur Sprache kam in den Panels die deutsch-tschechische Erklärung von 1997. Dieser widmete sich in seinem Einführungsreferat auch Botschafter a.D. Jiří Gruša. Er würdigte diese als „Ende einer langen Rivalität“ und zeichnete die drei Etappen (Konkurrenz, Konflikt, Kohabitation) der deutsch-tschechischen/böhmischen Beziehungen vor allem seit dem 19. Jahrhundert (Reich der Habsburger, aufkommender Nationalismus, erste Republik, Protektorat) auf. „Der tschechische Revanchismus war ohne Pardon und Parallelen“, beschrieb Gruša die Zeit am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg, in der die Abschiebung bzw. Vertreibung der Deutschen stattfand, was für viele Tschechen jedoch zu einem Trauma wurde. Der Referent vergaß weder die Ostverträge noch die Charta ´77, in deren Reihen bereits 1985 in einem Dokumente die deutsche Einheit gefordert wurde. Die Wende 1989 hat für die Tschechen laut Gruša nur anfangs ein Ende der antideutschen Haltung gebracht. Nach einigen Jahren seien die lange Zeit tabuiserten Themen wieder in den Vordergrund gerückt, „Tschechien musste über die eigenen Negativa nachdenken“, verdeutlichte der frühere Botschafter. Das betraf auch das Thema Vertreibung der Deutschen. „Wir müssen Selbstreflexion machen, unsere eigene Schuld beschreiben“, empfahl der Referent, was dann auf deutscher wie auf tschechischer Seite mit der Erklärung von 1997 geschehen ist. „Das war und ist eine gemeinsame Perspektive, aus Gegensätzen wurde ein Einklang geboren“, fasste Gruša zusammen und würdigte das Eingeständnis der eigenen Schuld auf tschechischer Seite als „revolutionär“.

Verpasste Chancen und Tabus

Dennoch gab es vor und auch nach dieser Erklärung immer wieder verpasste Chancen sowie Tabus im deutsch-tschechischen Dialog. Diese benannten der Historiker Dr. Miroslav Kunštát auf tschechischer und Dr. Peter Becher auf deutscher Seite. Folgende verpasste Chancen nannte Kunštát: Die nicht vollendete Debatte über Václav Havels Impuls (Rede in München) 1989/90, die Nichtbeteiligung der Tschechoslowakei an den Vorbereitungsverhandlungen zum Vertrag „2+4“, die lange Absenz der ehemaligen DDR bzw. neuen Bundesländer in den Parametern der tschechischen Wahrnehmung, die lange Ausarbeitung des deutsch-tschechoslowakischen Freundschaftsvertrages von 1992, der nach der Aufspaltung in die Tschechische und Slowakische Republik dann nicht so richtig mit Leben gefüllt werden konnte. Auch wenn nach der deutsch-tschechischen Erklärung von 1997 nicht alle darin fixierten Aspekte zufriedenstellend laufen, sieht Kunštát die Erklärung dennoch als „Basis für Optimismus“. Auf die Vielschichtigkeit des deutsch-tschechischen Verhältnisses ging Peter Becher ein, der aber auch auf „anhaltende Empfindlichkeiten und Ressentiments“ hinwies: die Verletzungen durch die NS-Okkupation seitens der Tschechen und die Vertreibung der Sudetendeutschen. „Das sind bedrückende Akte der Unmenschlichkeit, schwierige Fragen wurden und werden oft höflich ausgeklammert“, konstatierte der Geschäftsführer des Adalbert-Stifter-Vereins. Als Defizit auf deutscher Seite benannte er das Fehlen einer Geste seitens der Sudetendeutschen sowie die fehlende selbstkritische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit bei den Sudetendeutschen. Zwar habe inzwischen der Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft Bernd Posselt MdEP die Mitschuld der Sudetendeutschen eingestanden, dies sei, so Becher, aber erst viele Jahre nach Havels Entschuldigung geschehen. „Erst dann ist ein gleichberechtigter Dialog, die Suche nach akzeptablen Lösungen möglich“, schloss Becher seine Ausführungen.

Einen besonderen Höhepunkt stellte die Präsentation der Siegerbeiträge des Essaywettbewerbs "Mitteleuropäische Nachbarschaften - Kennen wir uns wirklich" dar. Diesen hatten die beiden Europaabgeordneten Martin Kastler und Jan Březina ausgerufen.

Europa auch eine Wertegemeinschaft

Zum Thema „Bayern - Rückgrat einer lebendigen deutsch-tschechischen Nachbarschaft?“ referierte Markus Sackmann MdL, Staatssekretär im Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen. Er machte deutlich, dass Ministerpräsident Horst Seehofer mit seinem Besuch im vergangenen Dezember in der Tschechischen Republik ein „neues Kapitel und neue Wege“ im Verhältnis zwischen Tschechien und Bayern bzw. Deutschland aufgestoßen habe. Als „echtes Gespräch“, ja einen „echten Meinungsaustausch“ würdigte der Staatssekretär die Begegnungen mit den tschechischen Politikern. Als Basis Europas sieht Sackmann die „Einheit in der Vielfalt“, wobei in der EU nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Wertegemeinschaft - die gemeinsame, abendländische, christlich-jüdische Kultur - von Bedeutung sei. Ebenso wichtig ist für den Landespolitiker aber auch der Dialog der Bürger über die Grenzen hinweg. „Menschen sind lebende Brückenbauer“, führte Sackmann aus und dankte der Ackermann-Gemeinde für den seit Jahrzehnten geübten deutsch-tschechischen Dialog. Dieser müsse aber, so der Staatssekretär, die Identität und Kultur der anderen respektieren. Angesichts von Herausforderungen wie Sicherheit, demografische Entwicklung und - ab 1. Mai - der Arbeitnehmerfreizügigkeit mahnte Sackmann auf beiden Seiten der Grenze die Kenntnis der jeweils anderen Sprache an.

Haben Tschechen vor Deutschland Angst?

Das Thema „Ängste der Tschechen vor einem starken Deutschland“ behandelte die Publizistin Dr. Alena Wagnerová. Sie sprach dabei unter anderem die Bedeutung der EU-Mitgliedschaft Tschechiens, stets wieder auftauchende Anti-Hitler-Koalitionen und Diskurse über die Leitkultur in Deutschland an. „Wir müssen keine Angst vor einem demokratischen Deutschland haben“, brachte es Wagnerová auf den Punkt. Und sie ging auch auf das Bild der Sudetendeutschen in der Zwischenkriegszeit ein, wo es auch „Tschechoslowaken deutscher Nationalität“, was vor allem Gegner Hitlers und Henleins waren, gegeben habe. Für notwendig hält die Publizistin, die Überreste des Denkens aus dem Kalten Krieg zu überwinden.

Öffnung des Herzens

Der konkreten Frage „Was hält Europas Mitte zusammen?“ ging am Samstagnachmittag zunächst der österreichische Botschafter in Prag Dr. Ferdinand Trauttmansdorff nach. Er nannte den Kultur-, Verkehrs- und Wirtschaftsraum (künftige Donau-Moldau-Region), die bald geltende Freizügigkeit der Arbeitnehmer („psychologisches Niederbrechen eines Teils der Grenzbalken im Kopf und im Herzen“), die (noch stark zu verbesserenden) Sprachkenntnisse und die Auseinandersetzung mit den unmittelbaren Nachbarn als einen Gegenpol zur Globalisierung. Die deutsch-tschechische Erklärung sah der Botschafter als „haltbare Basis für Versöhnung und Nachbarschaft“ und kritisierte, dass es ein solches Dokument nicht zwischen Österreich und Tschechien gibt. Auch dem Sport misst der Diplomat eine wichtige Bedeutung zu. „Die Europäische Union und ihre Institutionen bilden den Rahmen. Aber es kommt auf die Öffnung des Herzens von allen an, die mit uns in einer gemeinsamen Region leben“, fasste Trauttmansdorff zusammen. Die bis heute fast nicht gelösten Probleme zwischen Slowaken und Ungarn thematisierte der Vizepremier der Slowakei für Menschenrechte und Minderheiten Dr. Rudolf Chmel. „In der Slowakwi gelang in 21 Jahren keine Therapie, um die slowakisch-ungarischen historischen und aktuellen Streitigkeiten zu heilen. Wir waren nicht fähig, über eine Versöhnung zu sprechen“, führte Chmel aus und schloss daraus, dass damit auch Mitteleuropa (noch) nicht funktioniere. Auf die Bedeutung der Automobilindustrie und der Energiewirtschaft für Mitteleuropa machte der Philosoph Dr. Martin Muránsky aufmerksam, auf den Wert von Literatur, Kultur und Geschichte der Literaturtheoretiker und -historiker Prof. Dr. Jiří Travníček, der aber auch eine spezifisch mitteleuropäische Identität in Frage stellte. Den paneuropäischen Gedanken brachte der Generalsekretär der Paneuropabewegung Österreich Rainhard Kloucek in die Diskussion ein.

Gesten und Aktionen sind angesagt

Konkret auf das Verhältnis von Deutschen und Tschechen bezogen die Tagungsthematik der Ehrenvorsitzende der Ackermann-Gemeinde Dr. Walter Rzepka, der langjährige Geistliche Beirat und Leiter des Prager Büros der Ackermann-Gemeinde Monsignore Anton Otte und der Politikwissenschaftler und frühere tschechische Minister Dr. Jaroslav Šabata. Rzepka sah die deutsch-tschechische Erklärung zunächst als politisches Faktum, auf deren Basis dann Gesten (Heilung der psychischen Schädigungen), Aktionen und Einrichtungen folgten - mit ganz verschiedenen Erfolgen und Wirkungen. „Die Entwicklung ist insgesamt positiv gelaufen, und die Geschichte ist nicht ausgeblendet“, fasste der Ehrenvorsitzende zusammen. Er empfahl die weitere Erforschung der gemeinsamen Geschichte, auch wenn er nicht „das alleinige Heil“ daraus erwartet. „Im praktischen Zusammenleben müssen wir weitermachen und Themen anpacken, die heute das Zusammenleben belasten können. Hier also nach Abhilfe suchen und die Zukunft sicher stellen“, blickte Rzepka nach vorne. Seine auschließliche Verantwortung gegenüber der Ackermann-Gemeinde betonte Anton Otte bei der Schilderung seiner Tätigkeit seit Beginn der 90er Jahre in Prag. Und er sieht auch bei den aktuellen Fragen und Problemen meist nur Lösungen im europäischen und grenzüberschreitenden Kontext. Auf ein geteiltes Echo stieß Jaroslav Šabata mit seiner Aussage von der „segensreichen Hegemonie“ Deutschlands in Europa - vor allem in wirtschaftlicher Sicht. „Deutschland ist zum Musterland Europas geworden“, meinte der frühere Minister. Bezüglich des deutsch-tschechischen Verhältnisses sprach Šabata von einem zunächst angespannten, nun aber gelösten Verhältnis. „Heute steht die sudetendeutsche Frage nicht mehr im Vordergrund“, stellte er fest und schlug vor, den Sudetendeutschen Tag in naher Zukunft zum Beispiel in Brünn abzuhalten.

Vergleich von Vertreibungen

Die Frage, wie ein gemeinsames historisches Gedächtnis in Mitteleuropa aussehen könne und ob dieses eher verbindende oder trennende Elemente beinhalte, stand zum Abschluss des Symposiums auf dem Programm. Den Auftakt bildete unter dem Titel "Das Ende der emotionalen Debatte? Ein Beitrag zum sachlichen Umgang mit dem Thema Zwangsmigration" die Präsenation der Dokumentensammlung "Die Aussiedlung der Deutschen und die Veränderung des tschechischen GRenzlandes 1945-1951" durch den Mitherausgeber Dr. Adrian von Arburg. Die Bedeutung dieser Edition unterstrichen in ihren Kommentaren der tschechische Historiker Dr. Matěj Spurný und der deutsche Referent Dr. Otfrid Pustejovsky. Der weitere Input oblag dem Gründungsdirektor der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ Prof. Dr. Manfred Kittel. „Nationales und europäisches Erinnern darf sich im Europa des 21. Jahrhunderts nicht ausschließen“, stellte er einleitend fest. Er nannte neben den (Sudeten)Deutschen und Tschechen viele andere europäische Völker und Volksgruppen, die im 20. Jahrhundert das Schicksal der Vertreibung erlitten haben. „Unsere Dauerausstellung vergleicht die verschiedenen Vertreibungen und arbeitet die Ursachen heraus“, machte Kittel deutlich, betonte aber auch den Verlust oft langer kultureller Traditionen, womit die europäische Kultur insgesamt ärmer wurde. „Für Europa gibt es nur einen europäischen Weg - und der heißt, Brücken zu bauen“, empfahl Kittel. Dabei seien aber Krieg, Vertreibung und Zwangsmigrationen ein Teil des gemeinsamen historischen Gedächtnisses.

Der Historiker am Institut für Zeitgeschichte in Prag Dr. Michal Kopeček verwies darauf, dass in Tschechien das Erbe des Kommunismus und die Erinnerungen daran auch heute noch eine Rolle spielen. Er machte deutlich, dass zwischen 1989 und 2000 weitgehend die Auseinandersetzung mit der Geschichte fehlte, die dann erst ab 2000 stärker einsetzte. Das Konzept des in Aussig angesiedelten Collegium Bohemicum stellte die Direktorin Blanka Mouralová detailliert vor, der stellvertretende Vorsitzende des Karpatendeutschen Vereins der Slowakei und Direktor des Karpatendeutschen Museums in Bratsialva/Preßburg Dr. Ondrej Pöss ging auf sein Museum als Teil des slowakischen Nationalmuseums ein. Wichtig für ihn ist zum einen das Erfahren von Empathie, zum anderen aber auch der Mut zur Wahrheit.

Die Heilige Messe zum Palmsonntag feierte der Brünner Bischof Mons. Vojtěch Cikrle mit den Konferenzteilnehmern am Samstagabend, feierlich musikalisch gestaltet vom Chor Kantilena der Brünner Philharmonie, in der Kathedrale St. Peter und Paul.

Markus Bauer/ag

Kastler, Pithart und Gruša in Brünn