Prof. Dr. Gesine Schwan beim Themen-Zoom der Ackermann-Gemeinde

Unmittelbar nach dem traditionellen Brünner Symposium der Ackermann-Gemeinde und der Bernard-Bolzano-Gesellschaft, das am Palmsonntag-Wochenende in der Hauptstadt Mährens stattfand, griff der monatliche Zoom der Ackermann-Gemeinde das Thema dieser Veranstaltung nochmals auf: „Vor dem Krieg – nach dem Krieg: mitteleuropäische Erfahrungen und Perspektiven“. Zu dieser Thematik und auch zu ihren Erfahrungen und Eindrücken beim Symposium sprach Prof. Dr. Gesine Schwan, die auch am ersten Abend in Brünn auf dem Podium saß. Sie sprach und diskutierte über das Erbe des Zweiten Weltkrieges und den Umgang mit dem Nazismus/Faschismus heute. Rund 85 Personen verfolgten an ihren Bildschirmen das Gespräch und die Diskussion.

„Die Aufarbeitung der Vergangenheit wird eine Riesenschwierigkeit sein!“

Prof. Dr. Gesine Schwan (*1943) ist Politikwissenschaftlerin und studierte Romanistik, Geschichte, Philosophie und Politologie in Berlin und Freiburg. Seit 1972 ist sie Mitglied der SPD und seit 2014 Vorsitzende deren Grundwertekommission. 1999 bis 2008 war sie Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder sowie 2009 bis 2014 Mitgründerin und Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance und ist heute Präsidentin des Nachfolgeprojekts Humboldt-Viadrina Governance Platform. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen (u.a. 2004 den Marion-Dönhoff-Preis für internationale Verständigung und Versöhnung) und ist Trägerin des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. 2004 und 2009 war sie Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin.

Moderator Rainer Karlitschek wies in seiner Einführung darauf hin, dass man angesichts des Krieges in der Ukraine und den damit verbundenen Diskussionen im Symposium-Titel vom Begriff „Frieden“ abgesehen habe. „Nimmt man das Wort ‚Frieden‘ vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine vorsichtiger in den Mund, zumal es von vielen Leuten unterschiedlich vereinnahmt wird?“, fragte er Gesine Schwan.

Die Referentin mahnte einen „vorsichtigen Umgang“ mit dem Wort Frieden an, da die Bandbreite vom Waffenstillstand bis zur ausgefüllten Demokratie reiche. Aber auch die Formulierung „vor bzw. nach dem Krieg“ sei schwierig. „Wir können nicht vorwegnehmen, was nach dem Krieg ist, wie es nach dem Krieg aussieht – erst recht nicht, wie Frieden aussieht“, stellte Schwan klar. Besonders die grauenvollen Ereignisse ließen heute keine Perspektive zu, wie sich das Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland bzw. den Ukrainern und Russen gestalten wird, wie ein friedliches Zusammenleben aussehen könnte. Als Ursache nannte sie die „obrigkeitsstaatliche, totalitäre Diktatur Putins und des Kreises um ihn herum“. Vorstellbar sei, dass die Menschen, wenn sie von diesem auf Unwahrheiten und Lügen aufgebauten Regime befreit sind, wieder miteinander leben können.

Die zentrale Intention des Brünner Symposiums, nämlich aus der Geschichte zu lernen (am besten an einem geschichtsträchtigen Ort), „wenn man Geschichte beackert“, betonte Moderator Karlitschek. Das habe zwar im deutsch-tschechischen Bereich gut geklappt, allerdings sei die globale, geopolitische Perspektive vergessen bzw. in den Hintergrund gedrängt worden. „In welchen Bögen denken Sie bzw. muss man denken?“, fragte er die Professorin.

Zunächst machte sie deutlich, dass niemand Putins Angriffskrieg für möglich gehalten hatte, zumal man es in jüngster Zeit meistens mit Bürgerkriegen und nicht mit Kriegen zwischen Nationalstaaten zu tun hatte. Doch Schwan stimmte auch nicht der These zu, dass bei Kenntnis der Geschichte des anderen Landes schon eine Verständigung möglich sei. „Das ist sicher eine wichtige Voraussetzung – aber eine notwendige, jedoch nicht zureichende Voraussetzung. Verständigung läuft nicht nur über den Kopf, das Kennen und das Kognitive. Verständigung hat immer auch eine starke emotionale Seite“. Bei zu starken Wunden, gegenseitigen Anfeindungen und Verwundungen könnten auch keine noch so intelligenten Geschichtsinterpretationen zur Verständigung beitragen. In diesem Kontext sprach sie die unterschiedlichen Geschichtsinterpretationen in den einzelnen Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas an – insbesondere in Bezug auf Russland, die liberalen Demokratien, den Liberalismus und den Westen. „Das sieht man im westlichen Europa nicht genügend. Die Erinnerungen sind in jedem Land aufgeteilt: in verschiedene Gruppen, Erfahrungen, politische Orientierungen sowie geschlechtsspezifisch“, merkte die Referentin an. Sie sprach gleichermaßen von einer Vielfalt, Manipulierbarkeit und Unübersichtlichkeit der Sichten in anderen Völkern, Staaten bzw. Gesellschaften, wozu noch die gegenwärtige aggressive russische Führung kommt. „Dass man die Geschichte der anderen kennt, man sich darüber verständigt – dass man das tut, ist wichtig. Aber die Verhältnisse zwischen Menschen – vor allem wenn sie zusammengefasst in nationalen Gesellschaften gedacht werden – sind sehr stark auch durch Erinnerungen und Erfahrungen geprägt, die einen starken, emotionalen Wert haben“, fasste Schwan diesen Aspekt zusammen.

Vor diesem Hintergrund lenkte Moderator Karlitschek den Blick auf Schwans Erfahrungen vor allem im deutsch-polnischen Bereich und damit auf die deutsche Ostpolitik Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre – zumal Schwan damals mit einigen SPD-Politikern (z.B. Egon Bahr) in manchen Punkten uneins war. Die Annäherung nach dem Zweiten Weltkrieg Richtung Osteuropa bezeichnete die Sozialdemokratin eher als Verständigung denn als Versöhnung. Zunächst sei diese besonders über private und individuelle Kontakte, nicht oder weniger über politische Kanäle gelaufen. „Das ist aber nicht alles. Es ist zwar eine wichtige Sache, aber es reicht nicht, um nach so etwas Schlimmen wie einem Krieg zur Verständigung zu gelangen“, machte sie deutlich. Sie beschrieb den nach dem Bau der Berliner Mauer bei führenden SPD-Politikern entstandenen Ansatz der Entspannungs- bzw. Ostpolitik (Doppelspurigkeit: einerseits Klarstellung des Unterschiedes der politischen Systeme, andererseits pragmatische Zusammenarbeit in einzelnen Bereichen). In den 1970er Jahren habe sich ein Gegensatz zwischen „Achtung der Menschenrechte“ und „Sicherung des Friedens“ entwickelt – und damit ein Konflikt zwischen Schwan und Bahr bzw. weiteren damaligen SPD-Größen. Mit den Vorgängen und Entwicklungen von 1989 war diese Auseinandersetzung dann passé.

Hier stellte Karlitschek wieder den Bezug zu heute her – mit dem Verhältnis zwischen Wirtschaft und Menschenrechten bzw. dem Slogan „Wandel durch Handel“. Grundsätzlich stehe dieser alten Freihandelstheorie nichts entgegen, so Schwan. In der Regel würden durch Handel auch bei gegenseitigen Interessen die Konflikte gedämpft. Im aktuellen Fall (Handel mit Russland) sei Deutschland zu abhängig geworden. „Das ist eine schlimme Abhängigkeit. Da kann man nicht sagen ‚Wandel durch Handel‘, sondern da ist eine Leichtfertigkeit entstanden, die wir hätten vermeiden müssen“, wurde die Referentin deutlich.

Den Dialogkanälen mit Russland galt Karlitscheks nächste Frage: waren diese gekappt oder nicht mehr möglich? Wurden andere Kanäle (z.B. Russlandforum der OECD) zu wenig genutzt? Dazu schilderte Schwan weit über 20 Jahre zurückliegende Erfahrungen aus dem Deutsch-Russischen Forum, in dem es „keine offene Kommunikation“ gegeben habe. „Die Foren waren in Sachen Kommunikation nicht so authentisch wie es nötig gewesen wäre, um sich wirklich zu verständigen und anzunähern. Da war ich zunehmend unzufrieden und bin aus dem Forum ausgetreten. Da wurde in meiner Sicht eine Scheinwelt aufgebaut. Es war kein ehrlich-kritischer und selbstkritischer Dialog“, blickte sie enttäuscht zurück. Wirtschaftsunternehmen würden hingegen ihren Blick in erster Linie auf das betriebswirtschaftliche Ergebnis und nicht die Politik richten – konkret: um ungestört Handel zu betreiben. „Da muss man immer aufpassen!“, empfahl sie – ungeachtet der Themenfelder und Gruppen, die im Dialog stehen.

Die letzte Moderatoren-Frage beinhaltete den Aspekt, dass die Ukraine scheinbar in den letzten Jahren hinsichtlich der Wahrnehmung und Beschäftigung, ihres Bedürfnisses der Annäherung an Europa seitens des Westens vernachlässigt wurde. Als einen zentralen Aspekt nannte Schwan hier die Nordstream-Gaspipeline. Die deutsche Bundesregierung habe damals den Eindruck vermittelt, dass Russland verlässlicher als die Ukraine sei. Zudem habe sie bei der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung 2007/08 „etwas Sorge gehabt, dass die Ukrainer nicht so richtig berechenbar sind. Da hat die deutsche Bundesregierung deutlich den Machtanspruch Russlands unterschätzt – und nachher mit dem Ausbau des Handels noch mehr. Heute ist die Ukraine im Bewusstsein als selbständiger Staat wie das vor dem Krieg nicht war. Dass Russland der Hauptgegenstand der Diskussion ist, liegt daran, dass Russland der Bedrohungsfaktor ist“, fasste Schwan diesen Bereich zusammen.

In der anschließenden Diskussion fragte Prof. Dr. Bernhard Dicknach einer Perspektive für einen Gesinnungswandel im russischen Volk, zumal seiner Meinung nach das „Narrativ vom göttlichen Auftrag zur Weltherrschaft“ tiefer im russischen Volk verwurzelt ist. Gesine Schwan verwies auf Diskussionen vor bzw. um 1989 zu der Frage, wie ein Regimewechsel vom Kommunismus bzw. von einem autokratischen System zur Demokratie stattfindet und wie sich die Gesellschaft dabei verändert. Dabei seien wohl zwei Dinge zu beobachten: zum einen die Kontinuität von Eliten (sind auch nach dem Wechsel von Regierungen/Regimen in wichtigen Positionen). „Es braucht mindestens eine Generation, also 25 Jahre, bis langsam eine Änderung stattfinden kann“, verdeutlichte die Professorin. Zum anderen müsse es „eine Arena der öffentlichen Meinung und Auseinandersetzung geben, die pluralistisch ist. Nur wenn eine pluralistisch-öffentliche Meinung bzw. ein Meinungsstreit, der aus der öffentlichen Gesellschaft produziert wird, stattfindet, verbunden mit einem Generationswechsel, kann es zu einem deutlichen Bruch mit dem kommen, was vorher geschehen ist“, konkretisierte Schwan. Eine solche Entwicklung kann sie sich aktuell in Russland, wo viel Manipulation herrscht, nicht vorstellen. Außerdem gebe es dort eine emotionale Sperre dagegen, das zu sehen, was stattgefunden hat. „Wir müssen auch wissen, dass auch die Ukrainer nicht alle Engel sind. Aber es ist eindeutig, dass die Ukraine das Opfer ist und mit großer Tapferkeit versucht, diese Freiheit zu schützen. Aber die Aufarbeitung der Vergangenheit wird eine Riesenschwierigkeit sein“, schloss Schwan ihre Antwort zu dieser Frage.

Den Begriff bzw. Aspekt „Versöhnung“ – auch als Hintergrund, um aus einem Krieg herauszukommen – brachte Michael Feil ins Spiel. Auch sprach er die Problematik an, dass die Bevölkerung in Russland eher schwer zu erreichen sei, da sich der Krieg ja nicht auf russischem Territorium abspielt. Auch das Übergreifen des Krieges auf andere Länder hielt er nach wie vor für denkbar. Prof. Dr. Barbara Krause, die beim Symposium in Brünn das Abschlusspodium moderierte, erinnerte an das Statement der dort vertretenen Ukrainerin, die das „Recht“ betonte: Dokumentation von Unrecht, um – selbst wenn es erst später ist – zum Wandel beizutragen. Und den Angriffskrieg auch als einen solchen zu benennen. Dr. Otfrid Pustejovsky forderte eine Beschäftigung mit Mittel- und Osteuropa. „Ich bin erstaunt, dass in Deutschland innerhalb eines Jahres ein Nachholbedarf von 70 Jahren sichtbar geworden ist“, klagte der Historiker. Hier liege eine immense „bildungspolitische Aufgabe, die von den Schulen über die Politik bis zum Bundeskanzler reicht“. Auch Fehleinschätzungen im Vatikan hätten darin ihren Grund.

Abschließend fragte Karlitschek die Referentin nach ihrer Meinung zu den jüngsten Vermittlungsvorschlägen, sei es durch neutrale Länder oder seitens gesellschaftlicher Gruppierungen. „Grundsätzlich finde ich es richtig, dass wir nicht immer weiter aufrüsten. Wir müssen vielmehr überlegen, wie eine ständig steigende Aufrüstungsspirale entschärft werden kann, damit dieser Krieg zu Ende geht“, erklärte Schwan. Sie sprach sich aber auch gegen Positionen aus, welche die Ukrainer benachteiligen und den Russen in die Hände spielen. „Putin, der stark geopolitisch denkt, kann getroffen werden, wenn der Westen intelligent auch die Staaten auf seine Seite bekommt, die sich nicht eindeutig zum Westen bekennen – konkret die BRICS-Staaten. Doch ich glaube nicht, dass wir aktuell in der Situation sind, dass diese Länder vermitteln könnten. Doch Bundeskanzler Scholz versucht, in diese Richtung die Fühler auszustrecken“, konkretisierte die Professorin. Momentan hält sie es für unrealistisch, Russland zu einem Waffenstillstand zu bewegen. Änderungen könnten sich ergeben, wenn der russischen Seite deutlich wird, dass sie den Krieg nicht gewinnen kann, dass die Nachteile durch den Krieg die Vorteile überwiegen und sich in Putins Umfeld die Kräfte verschieben.

Ganz zum Schluss beschrieb Schwan ihre Eindrücke vom Brünner Symposium. „Ich war sehr beeindruckt, bin gerne gekommen und habe sehr viel gelernt. Ich habe eine große Hochachtung vor dem moralischen Impetus gehabt, den die Ackermann-Gemeinde hat. Es ist ein Konservatismus, der sehr respektabel ist und der vor allem die Botschaft der Versöhnung ernst nimmt. Das hat mir immer sehr imponiert“, zollte sie Anerkennung. Lob sprach sie auch für die Engagement der jungen Generation bei der Ackermann-Gemeinde aus.

Markus Bauer